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100-Prozent-Regelsatz für volljährige Menschen mit Behinderung – Ministerium gibt öffentlichem Druck nach


Mit gleich drei Urteilen entschied das Bundessozialgericht (BSG) am 23 Juli 2014, dass volljährigen Menschen mit Behinderung, die im Elternhaus oder in einer Wohngemeinschaften leben, der Eckregelsatz in Höhe von 100 Prozent zusteht (Aktenzeichen: B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 31/12 R, B 8 SO 12/13 R). Daraufhin hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter anderem mit Erlass vom 8. August 2014 und späteren Rundschreiben angeordnet, diese höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht umzusetzen.



Plötzlicher Meinungsumschwung



Nach massivem öffentlichem Druck und der Veröffentlichung entsprechender Rundschreiben im Internet, lenkt das BMAS nun ein und beabsichtigt eine sogenannte „wirkungsgleiche“ Umsetzung der BSG-Urteile vom Sommer letzten Jahres. Das BMAS erkennt ferner an, dass das BSG durchaus eine Rechtsvorschrift auslegen kann ohne eine Vorlage zum BVerfG zu machen.



Weiter führt das BMAS formell eine Anhörung durch und gab den von der Regelsatzerhöhung betroffenen Bundesländern die Möglichkeit, bis zum 27. März 2015 hierzu Stellung zu nehmen. Die Länder wären zuständig, eine entsprechende und - wie zu hoffen ist – einheitliche Umsetzung der Regelsatzurteile bei Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB XII, der Hilfe zum Lebensunterhalt, sicher zu stellen.



Danach will das BMAS durch Erlass regeln, dass rückwirkend bis zum 01.01.2013 – ohne extra Antrag, Überprüfungsantrag, Widerspruch oder anhängigem Klageverfahren – der Eckregelsatz/Regelbedarfsstufe 1 nachzuzahlen ist. Das bedeutet, dass für rund 40.000 betroffene Grundsicherungsbeziehende rückwirkend bis Januar 2013 76 EUR (2013), 78 EUR (2014) und 79 EUR (2015) pro Monat, also für insgesamt 27 Monate 2.085 EUR nachzuzahlen sind. Vorsorglich ist darauf hinzuweisen, dass der Nachzahlungsbetrag mit 4 Prozent zu verzinsen (§ 44 Abs. 1 SGB I) und nicht als Einkommen anzurechnen ist (§ 82 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Mit Blick auf den nicht unerheblichen Nachzahlungsbetrag und das niedrige Schonvermögen in Höhe von 2600 EUR überlegt das BMAS, den Betrag zwei Jahre lang als Vermögen anrechnungsfrei zu stellen.



Von dieser Regelung profitieren im Übrigen nicht nur Menschen mit Behinderung. Auch erwachsene voll erwerbsgeminderte Personen, die z.B. bei den Eltern wohnend Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII beziehen, und keinen eigenen Haushalt führen, müssen in die Regelung miteinbezogen werden, wenn ein Mindestmaß an eigener Haushaltsführung vorliegt.



Das aktuelle Rundschreiben des BMAS vom 18.03.2015 zur Umsetzung der BSG-Rechtsprechung findet sich unter http://www.harald-thome.de/media/files/BMAS-18.03.2015---2960_001-(2).pdf .



Pläne des Ministeriums sind unklar



Bei dem Schreiben handelt es sich allerdings nur um eine befristete Anweisung, die in erster Linie darauf abzielt, derzeit bei den Sozialgerichten anhängige Verfahren zu beenden bzw. neue vorerst zu vermeiden. Des Weiteren ist man dort offensichtlich um eine Begrenzung des Imageschadens in der öffentlichen Wahrnehmung bemüht.



Das BMAS hält grundsätzlich an seiner Rechtsauffassung fest, dass Menschen mit Behinderung, die nicht alleine oder als Partner in einem Haushalt leben, einen (nach unten) abweichenden Bedarf zum Lebensunterhalt haben. Bei der aktuell laufenden Erhebungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, deren Ergebnisse Ende 2015 erwartet werden, könnte demnach nachgebessert und der Bedarf der Personengruppe in einer Sonderauswertung genauer erfasst werden. Ziel dieser erweiterten Datenerhebung und -auswertung könnte sein, mit einer statistisch untermauerten, hinreichend begründeten, neuen Regelbedarfsstufe 3 für SGB-XII-Leistungsbeziehende ohne eigenen Haushalt die Vorgaben der BSG-Rechtsprechung erneut zu umschiffen.



Im Sinne einer ernst gemeinten Inklusion wäre es allerdings längst überfällig, dass sich auch in Bezug auf behinderte und voll erwerbsgeminderte erwachsene Menschen eine gesetzliche Vermutungsregelung durchsetzt, die eine eigenständige und von Mitbewohnern unabhängige Lebensführung als Regel konstituiert und Leistungsberechtigten nicht als lebenslängliche Anhängsel eines wie auch immer gearteten „Haupthaushalts“ definiert.



Beständiger Widerstand



Vielleicht ist das einer der Gründe, warum das BSG beständig seit 2009 unter unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben zur Regelsatzermittlung an dem 100-Prozent-Regelsatz für Menschen mit Behinderung festhält. Trotz oder gerade wegen des Konfrontationskurses des Bundesministeriums untermauerte das Gericht mit zwei weiteren Urteilen vom 24. März 2015 seine Rechtsprechung zum 100-Prozent-Regelsatz und zur Vermutung einer gemeinsamen Haushaltsführung unter Beteiligung des behinderten Menschen (http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=ps&Datum=2015&nr=13788&pos=0&anz=6).



Durch die konsequente Veröffentlichung der ministerialen Verwaltungsanweisungen, deren Skandalisierung und der Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein Thema, das längst in Vergessenheit geraten schien, konnte der überraschende Meinungsumschwung beim BMAS befördert werden. Der Druck hat sich gelohnt: Eine generelle Nachzahlung von Leistungen mit 27 Monaten Rückwirkung ohne extra Überprüfungsantrag, das hat Seltenheitswert. Die Nachahmung ist daher wärmstens zu empfehlen.



 
Frank Jäger & Harald Thomé 

Tacheles-Onlineredaktion 



 

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