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Aufruf von Vertretern der Wissenschaft und der Fachpraxis Sozialer Arbeit gegen den „Kahlschlag im Sozialetat in Hessen“

"Hessen muss sozial bleiben“

Aufruf
von Vertretern der
Wissenschaft und der Fachpraxis Sozialer Arbeit
gegen den „Kahlschlag im Sozialetat“

Mit der „Operation ‚Sichere Zukunft’“ hat die CDU-Landesregierung das „größte Sparpaket in der Landesgeschichte“ angekündigt, mit dem im Landeshaushalt 2004 über eine Milliarde Euro eingespart werden sollen. Mit dieser „Operation“ soll die Haushaltspolitik wieder in „geordnete Bahnen“ gelenkt und zugleich ein Beitrag zur wirtschaftlichen Stärkung Hessens geleistet werden. Um diese Ziele zu erreichen, will die Landesregierung massiv Personal abbauen, die Arbeitszeiten verlängern, Gehaltskürzungen bei den Landesbeschäftigten vornehmen und sogenannte freiwillige Leistungen des Landes abbauen.

Für eine derartige Politik gilt auf Landes- (wie auch auf Bundes- und kommunaler) Ebene: Eine Politik der forcierten Konsolidierung der öffentlichen Haushalte läuft in der gegenwärtigen Phase weltwirtschaftlichen Stagnation Gefahr, lediglich die Arbeitslosigkeit zu erhöhen und die rezessiven Tendenzen weiter zu verschärfen. Gefordert ist statt dessen eine antizyklische Politik, die an einer Stabilisierung der Beschäftigung und Einkommen ausgerichtet ist.

Die Liste vorgesehener Sparmaßnahmen im Sozialetat umfasst ein Drittel aller freiwilligen Leistungen und reicht von Kürzungen um wenige Prozent bis zum völligen Wegfall der Landesförderung in bestimmten Bereichen. Da sich die Kommunen bereits seit längerem in einer noch viel schwierigeren finanziellen Lage als das Land befinden, ist ausgeschlossen, dass der Abbau der Landesförderung durch Mittel der Städte und Landkreise ausgeglichen werden kann. Vielmehr droht der Wegfall der Landesförderung durch die Kürzung kommunaler Mittel (z.B. dort, wo bisher die Gemeinden eine Co-Finanzierung leisten mussten) im Sinne eines Dominoeffekts weiter verschärft zu werden.

Werden Umfang und Zusammensetzung der Einsparmaßnahmen wie geplant realisiert, werden zentrale Bereiche der Infrastruktur von sozialen Einrichtungen und Diensten künftig für die Bürger Hessens auf örtlicher Ebene nicht mehr verfügbar sein: Die drohende Unterversorgung betrifft zum einen traditionelle gesellschaftliche Randgruppen: So werden z.B. Menschen, die in Obdachlosigkeit leben, künftig ohne professionelle Hilfe bleiben. Die Einschnitte betreffen aber ebenso Leistungen für Bürger, die kurzfristig in materielle (z.B. Überschuldung) oder psychosoziale Not (z.B. Familien mit Erziehungsproblemen) geraten sind. Viele, die heute noch glauben, die Sparmaßnahmen würden sie nicht betreffen, werden sehr bald erkennen müssen, dass auch sie sich den negativen Folgen nicht entziehen können. Da im beschleunigten sozialstrukturellen Wandel unsichere Lebenslagen zunehmen und der entsprechende Hilfebedarf wächst, droht eine Verschärfung der sozialen Ausgrenzungsrisiken im Bundesland Hessen. Anstatt durch präventive und kurzfristig verfügbare kurative Hilfen derartige Prozess zu vermeiden, wird sich die Zahl ausgegrenzter Menschen rasch erhöhen und wird sich deren Ausgrenzung verfestigen.

Bleiben zentrale Dimensionen der Lebenslage für ganze Bevölkerungsgruppen in Hessen künftig unversorgt, ist eine Sicherung eines menschenwürdigen Lebens für diese Menschen nicht mehr gewährleistet. Die absehbaren Folgen dieser Haushaltspolitik sind mit dem Gebot der Sozialstaatlichkeit, dem auch die Bundesländer unterworfen sind, daher nicht zu vereinbaren. Aber nicht nur das im Grundgesetz verankerte normative Sozialstaatsgebot wird verletzt. Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt wird damit in Frage gestellt. Wie bereits der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gezeigt hat, klaffen wachsender Reichtum der einen und zunehmende Armut der anderen immer stärker auseinander. Indem künftig ganze Bevölkerungsgruppen unversorgt bleiben, wird sich das soziale Klima weiter verhärten. Diese Politik ist sozial ungerecht, da sie schwerpunktmäßig solche Gruppen trifft, die auf ein funktionierendes Hilfesystem angewiesen sind. Diesen Hilfebedürftigen bietet die Landesregierung keine „sichere Zukunft“, sondern sie grenzt sie weiter aus und erschwert ihnen eine Teilnahme am „normalen gesellschaftlichen Leben“. Der eingeschlagene Weg gefährdet daher die Grundlagen einer auf sozialen Ausgleich hin ausgerichteten Gesellschaftsordnung.

Schließlich ist zu bezweifeln, dass die geplanten Einsparungen tatsächlich zu einem verringerten Mittelbedarf in den öffentlichen Haushalten führen: Durch die Leistungskürzungen entstehen Folgerisiken und Folgelasten, die nicht nur von den Betroffenen selbst, sondern auch von der Gesellschaft insgesamt getragen werden müssen. Was kurzfristig zu fiskalischen Einsparerfolgen führt, wird dadurch mittel- und längerfristig zu wachsenden finanziellen Lasten auch für die öffentlichen Haushalte in Hessen führen. Dabei hat Ministerpräsident Koch bereits angedeutet, dass sich diese Folgelasten in Hessen in einem Ausbau der Sicherheits- und Ordnungspolitik niederschlagen werden (zum Schutz der Begüterten und zur Kontrolle und Sanktionierung der Ausgegrenzten). Demgegenüber soll die Sozialpolitik künftig dauerhaft zurückgefahren werden. Insofern geht es beim gegenwärtigen „Sparprogramm“ um mehr als nur um Haushaltspolitik.

In den politischen Bestrebungen der Landesregierung zeigt sich das Leitbild einer anderen Gesellschaft. Das bisherige Modell einer „sozialen Marktwirtschaft“, in der der Markt und das Soziale zwei gleichwertige und gleichgewichtige Pfeiler bildeten, wird nun aufgekündigt und das Soziale als hinderlicher Ballast für die Entfaltung des Marktes zurück gedrängt. Das neue Gesellschaftsmodell ist das einer neoliberalen Marktgesellschaft, in der die sozialen Risiken privatisiert und die gesellschaftlichen Institutionen der Solidarität auf eine Restgröße reduziert werden.

Eine Politik der sozialen Ausgrenzung hat Tradition bei der gegenwärtigen hessischen Landesregierung. Ministerpräsident Koch war sich nie zu schade, in seinen Kampagnen Minderheiten unserer Gesellschaft anzugreifen. Zu erinnern ist an seine Kampagne gegen Ausländer oder seine Angriffe gegen Sozialhilfeempfänger. In ihren bundespolitischen Initiativen hat die hessische Landesregierung schon bisher die Kürzung sozialer Transferleistungen vor allem für die bedürftigsten Gruppen befürwortet. Mit der „Operation Sichere Zukunft“ wird diese Linie durch eine Politik ergänzt, die nun zum Kahlschlag im sozialen Hilfesystem ansetzt.

Der in der Geschichte der Bundesrepublik bislang einmalig radikale Sparkurs bildet die Grundlage für ein neues bundespolitisches Profil des Hessischen Ministerpräsidenten Koch: Beabsichtigt ist die Ausrichtung der Gesellschaft nach den Bedürfnissen des Marktes, der Marsch in eine entsolidarisierte Gesellschaft. Die Botschaft Hessens an die übrigen Landesregierungen und an den Bund lautet: „Eine Gesellschaft auch ohne das Soziale ist machbar“. Wer die unmittelbaren Opfer dieser neuen Politik sind, ist eindeutig erkennbar. Welchen Preis die Bürger Hessens – und künftig vielleicht der ganzen Bundesrepublik – dafür werden insgesamt zahlen müssen, ist dagegen noch nicht absehbar.

Die Politik der Verschärfung sozialer Ausgrenzung ist nicht „alternativlos“, wie die hessische Landesregierung der Öffentlichkeit Glauben machen will. So ist die Finanzkrise des Landes z.T. selbst verschuldet. Gehört es doch zum Credo der Landesregierung, dass hohe Einkommen und Vermögen steuerpolitisch zu schonen sind und der Staat sich durch Ausgabenkürzungen und Deregulierung auf seine sogenannten „Kernaufgaben“ zurückziehen soll. Ein ausgebauter Sozialstaat ist mit dieser Beschränkung auf „Kernaufgaben“ nicht mehr zu vereinbaren.

Sicherlich kann ein funktionierender Sozialstaat kein „billiger“ Staat sein. Soziale Sicherheit ist für die Bürger nicht zum Nulltarif zu haben (aber sie kann auch nicht von jedem privat erbracht werden). Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Die Einhaltung des Sozialstaatsgebots erfordert daher eine solidarisch getragene, staatlich organisierte soziale Sicherheit. In die Belastungen durch Steuern und Abgaben müssen alle Bürger wie auch die Wirtschaft einbezogen sein. Ihre Höhe muss sich nach der finanziellen Leistungsfähigkeit richten. Hohe Einkommen und Vermögen sind daher wieder stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu beteiligen. (So würde die Wiedereinführung der Vermögensteuer für das Land Hessen zu Mehreinnahmen zwischen 600 Mio. und 3 Mrd. Euro führen - je nach Höhe des Steuersatzes und der Freibeträge)

Die „Operation Sichere Zukunft“ der Hessischen Landesregierung ist somit finanz- und sozialpolitisch ein Schritt in die falsche Richtung. Dadurch bleiben die ökonomischen und finanzpolitischen Probleme des Landes ungelöst. Zugleich werden die sozialen Probleme der Landesbevölkerung in dramatischer Weise weiter verschärft.

Wir fordern die Politik, die Medienöffentlichkeit, die Träger und Fachkräfte Sozialer Arbeit und die Bürger in Hessen und im Bundesgebiet auf, sich diesem weitreichenden Angriff auf den Sozialstaat entschieden entgegen zu stellen.

Hessen, im September 2003


Liste der Erstunterzeichner:

1 Prof. Dr. Walter Hanesch, FH Darmstadt
2 Dr. Franz Segbers, Diakonischer Werk in Hessen und Nassau
3 Dr. Karl Koch, Diözesancaritasverband Limburg
4 Dr. habil. Thomas v. Freyberg, Institut für Sozialforschung Frankfurt a.M.
5 Dr. Hejo Manderscheid, Caritasdirektor Diözesancaritasverband Limburg
6 Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzender Diakonisches Werk in Hessen Nassau
7 Ulrike Cramer, Sozialplanung Kreis Groß-Gerau


Kontakte:

whanesch@FH-Darmstadt.de
Franz.Segbers@dwhn.de
Karl.Koch@DiCV-Limburg.de

Hinweise zum Verfahren:
Wenn Sie bereit sind, diesen Aufruf zu unterschreiben, dann teilen Sie dies bitte an eine der angegebenen E-mail-Adressen mit.

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