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BSG: Hartz IV nicht verfassungswidrig, aber heftige Kritik an der Verwaltungspraxis
Regelleistung verfassungsgemäß?
Mit der größten Spannung erwartet wurde die Entscheidung zur Höhe der Regelleistung. Das Ergebnis fasst das BSG selbst kurz zusammen:
„Keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen gegen die gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistungen ( § 20 Abs 2 und Abs 3 SGB II) und in diesem Zusammenhang gegen die aus den Gesetzesmaterialien nachzuvollziehende Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis. Es ist grundsätzlich zulässig, den Bedarf gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Massenverfahren vorzunehmen. Auch nach den individuellen Verhältnissen der Klägerin ist insoweit kein Verfassungsverstoß zu erkennen.”
Die Abschaffung der früheren Arbeitslosenhilfe falle nicht unter die Eigentumsgarantie, da es keine Versicherungsleistung war. Ebenso wenig führe die Reform zu einem unverhältnismäßig schnellen sozialen Abstieg, immerhin haben Betroffene seit dem Beschluss des Gesetzes im Dezember 2003 bis zum Inkrafttreten ein Jahr Zeit gehabt. Die Einschätzung, welche Leistungshöhe dem verfassungsrechtlich gebotenem Existenzminimum entspricht, ist dem Gesetzgeber überlassen. Selbst falls bei dieser Festlegung fachliche Fehler unterlaufen seien, so die Vizepräsidentin Dr. Ruth Wetzel-Steinwedel, führt dies nicht zur Verfassungswidrigkeit. Dieser Hinweis bezog sich wohl auf das Argument der Klägerin, die Berechnungsgrundlagen wären veraltet. Bis zu welchem Ausmaß das Gericht dem Gesetzgeber Fehler zugesteht, wird man wohl erst aus der schriftlichen Begründung erfahren. Die Einkommensanrechnung nach dem SGB II hält der Senat zwar für ungünstiger als bei der Arbeitslosenhilfe, aber deshalb sei sie noch nicht verfassungswidrig.
In diesem Fall – eine AlG-II-Bezieherin, ihr Ehemann als Rentner und ihre volljährige Tochter als BAB-Bezieherin und somit eigene Bedarfsgemeinschaft – hatte das BSG auch keine Bedenken, das Kindergeld für die Tochter als Einkommen des Vaters anzurechnen. Das hat zur Folge, daß die Eltern das Kindergeld für den eigenen Lebensunterhalt verwenden müssen, da auch der Bedarf nur für zwei Personen angerechnet wurde. Auch hier wird man auf die genaueren schriftlichen Ausführungen warten müssen. Das Urteil bezieht sich auf die Rechtslage im Jahr 2005; im Sommer 2006 wurde die Anrechnung des Kindergeldes und die Definition der Bedarfsgemeinschaft geändert.
Auffällig war bei diesem Verfahren, daß in der mündlichen Verhandlung von Seiten der Richter nichts gefragt wurde und keinerlei Hinweise zur rechtlichen Beurteilung kamen. Die Vorsitzende wollte sich ausdrücklich nicht äußern, die Beisitzer ebenso wenig. Die ausführliche Diskussion fand offenbar hinter verschlossenen Türen im Beratungszimmer statt. Die Urteilsfindung dauerte wesentlich länger als geplant. Das lässt vermuten, daß es auch innerhalb des Senats verschiedene Meinungen gab und die Entscheidung wirklich erst in letzter Minute fiel.
58er-Regelung: kein Vertrauensschutz
Die zweite verfassungsrechtliche Frage betraf einen besonderen Personenkreis. Der DGB-Rechtsschutz vertrat vier Kläger, die als Empfänger von Arbeitslosenhilfe die sogenannte 58er-Regelung unterschrieben hatten. Danach mussten sie sich zwar nicht mehr um Arbeit bemühen, aber eine Altersrente beantragen, sobald dies abschlagsfrei möglich ist. Diese Kläger gingen davon aus, so der DGB, daß ihnen damit die Arbeitslosenhilfe bis zum Rentenbeginn gesichert ist. Das sah das BSG anders. Die AlHi wurde immer nur für ein Jahr bewilligt, bei der Vereinbarung kam die Leistungshöhe gar nicht zur Sprache. Daß die betroffenen Arbeitslosen sich auch weiterhin nicht um eine Stelle bemühen müssen, gilt auch übergangsweise beim ALG2 II. Der Senat betonte, daß er schon früher in Urteilen zur AlHi immer entschieden habe, es gäbe bei dieser Leistung keine verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie. Das Bundesverfassungsgericht, so Dr. Wetzel-Steinwedel, habe diese Frage allerdings noch nicht eindeutig beantwortet.
Bescheide und Urteile heftig kritisiert
Abschließend entschied das BSG aber keinen dieser AlHI-Fälle. Stattdessen nutzte es die Gelegenheit, die Bescheide der ARGEn und Optionskommunen deutlich zu kritisieren. In keinem der anstehenden Fälle waren die Unterkunftskosten für das BSG nachvollziehbar aufgeschlüsselt. Meist wurde nur zwischen Miete und Heizkosten getrennt, aber die Angabe der Nettomiete und Nebenkosten sei unabdingbar. Den Einwand eines Behördenvertreters, die von der Bundesagentur zur Verfügung gestellte Software ermögliche das nicht, ließ das Gericht nicht gelten. Der Vertreter einer Optionskommune wies darauf hin, daß seine Behörde unter anderem aus diesem Grund inzwischen andere Programme einsetzt – aber zu spät für den aktuellen Fall. Auch Lebensversicherungen der Antragsteller, die das BSG in den Akten fand, waren in den Begründungen der Bescheide nicht erörtert worden.
Von dieser Argumentation waren sowohl die Klägeranwälte als auch die beklagten Behörden überrascht, die diese Punkte für unstrittig gehalten hatten. Das BSG meinte: bevor über die Verfassungswidrigkeit der 58er-Regel entschieden werden kann, muß in jedem Einzelfall geprüft werden, ob dem Kläger nicht schon aus anderen Gründen eine höhere Leistung zusteht. So wurde ein Kläger gefragt, warum er denn nicht gegen die Anrechnung der Eigenheimzulage geklagt habe. Dem Vertreter einer Optionskommune hielt der Senat vor, die Lebensversicherungen des Klägers würden sehr wahrscheinlich das Schonvermögen überschreiten, so daß vielleicht ohnehin kein Leistungsanspruch besteht. Das müsste zumindest ab nun berücksichtigt werden. Den überraschten Kläger, der eigentlich eine Erhöhung und keine komplette Streichung seiner Leistung erreichen wollte, tröstete die Vorsitzende: für die Vergangenheit könne ihm das nicht mehr weggenommen werden, und in seinem Fall trifft es für die Gegenwart schon nicht mehr zu, da er inzwischen Rente bezieht.
Da auch die Gerichte unterer und mittlerer Instanz diese Fragen nicht geklärt hatten, sah sich das BSG zu Sachentscheidungen nicht in der Lage und verwies alle vier Fälle zurück. Als Appell an die Verwaltungen empfahl Dr. Wetzel-Steinwedel, sie sollten „ihre Hausaufgaben sauber machen” und in den Bescheiden alle leistungsrelevanten Daten ausführlich und nachvollziehbar darstellen. Diese Forderung des BSG wird zu einem erheblichen Mehraufwand führen, bei den Behörden ebenso wie bei den Gerichten der unteren Instanzen. Für die Antragsteller kann das bedeuten, daß künftig noch genauere Angaben notwendig werden. Rechtsanwälte werden neben der eigentlich strittigen Frage durch gründliche Akteneinsicht prüfen müssen, ob der Fall auch in allen anderen Punkten vollständig bearbeitet wurde – damit hatten die Prozessbevollmächtigten am Donnerstag nicht gerechnet und konnten manche Frage der Vorsitzenden kaum beantworten.
Neue Eingliederungsleistungen möglich – auch für schon Erwerbstätige
Erfolgreich aus Sicht der Kläger war nur ein Fall, der eher ein Randproblem betrifft. Die Begründung kann aber weitreichende Auswirkungen haben. Zwei Berliner Künstler hatten neben ihrer sehr preiswerten Wohnung (212 Euro) ein Atelier gemietet, für das sie neben einer Förderung durch das Land 300 Euro Eigenanteil monatlich zahlen mussten. Da sie wegen der schlechten Situation auf dem Kunstmarkt keine Einnahmen hatten, wollten sie im Rahmen des SGB II auch die Übernahme dieser Kosten. Nur so könnten sie ihren Beruf weiterhin ausüben und später wieder selbst Geld verdienen. Das Job-Center Tempelhof und die Berliner Gerichte lehnten ab: keine Rechtsgrundlage. Eine Wohnung ist das Atelier nicht, und Einstiegsgeld für eine selbständige Tätigkeit ist nur bei Neugründungen möglich.
Der BSG-Senat war einfallsreicher: § 16 Abs. 2 SGB II erlaube neben den in Abs. 1 ausdrücklich genannten Fördermaßnahmen weitere und zähle dafür zwar Beispiele auf, aber keineswegs eine abschließende Liste. An anderen Stellen nennt das SGB II sogar ausdrücklich auch die „Beibehaltung der Erwerbstätigkeit” und die vorbeugende „Vermeidung oder Verkürzung von Hilfebedürftigkeit” als Ziel der Grundsicherung für Arbeitssuchende (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1 Satz 1). Und diesem Zweck kann im Fall der Berliner Künstler auch der Erhalt des Ateliers dienen. Selbst entscheiden wollte das BSG den Fall aber nicht, da der Wert der vorhandenen Bilder erst geprüft werden müsse – falls sie wie von den Künstlern selbst vermutet rund 1 Million Euro wert sind, besteht wohl eher kein Leistungsanspruch. Diese Frage muß das LSG prüfen.
Mit dem Hinweis auf § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II eröffnet das BSG den ARGEn und Optionskommunen völlig neue Möglichkeiten des individuellen Förderns. Wie früher in § 31 BSHG kann die Behörde jede geeignete Maßnahme auswählen und ist nicht nur an die im SGB II aufgezählten Möglichkeiten gebunden. Das gibt den Leistungsempfängern aber auch einen individuellen Anspruch darauf, daß entsprechende Anträge aus eigener Initiative in jedem Einzelfall gründlich geprüft werden und nicht nur einfach mit Verweis auf die Leistungskataloge im Gesetz abgelehnt werden können. Der 11b. Senat eröffnet damit für die berufliche Förderung ähnlich weitgehende Möglichkeiten wie zwei Wochen zuvor der 7b. Senat für besondere Bedarfssituationen im privaten Bereich (er hatte am Beispiel der Fahrtkosten für getrenntlebende Eltern zur Ausübung des Umgangsrechts darauf verwiesen, daß im SGB II nicht genannte Sonderbedarfe nach dem SGB XII finanzierbar sein können).
Erwin Denzler M.A., Dozent für Arbeits- und Sozialrecht, Fürth
Claudia Fittkow, Rechtsanwältin, Kassel