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Drei Jahre Hartz IV in Wuppertal – eine Bilanz

Das Tacheles als unabhängige Beratung für Arbeitslosen zieht Bilanz



Materielle und soziale Ausgrenzung



Wir stellen fest, dass derzeit 45.000 Wuppertaler Alg II-Bezieher kaum noch in der Lage sind, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist mit 347 Euro monatlich für einen alleinstehenden Erwachsenen nahezu ausgeschlossen. Einem Hartz IV-Betroffenen ist es kaum möglich, sich ausreichend und gesund zu ernähren. Der durchschnittlich zu Grunde gelegte Lebensmittelanteil von 3,81 Euro am Tag reicht hinten und vorne nicht aus, um eine gesunde Ernährung zu gewährleisten. Mit 0,47 Euro für Mobilität kommt mensch auch mit der Schwebebahn nicht sonderlich weit und wer sich nur alle zwei Wochen im Café einen Capuccino leisten kann, wird vom gesellschaftlichen Leben schier abgehängt.

  • Der Bund muss deshalb die Regelleistungen für Sozialleistungsbezieher umgehend auf 500 Euro monatlich anheben, um eine zunehmende Verschuldung, Verelendung und Ausgrenzung von Erwerbslosen und ihren Angehörigen zu stoppen.


Kein Hartz für Kinder



Mit einer finanziellen Unterstützung der Mittagessen in Ganztagsschulen von 1 Euro pro Kind und Essen durch das Land ist die Eigenbeteiligung für Leistungsberechtigte nicht zu finanzieren. In der Regelleistung der 6 bis 14jährigen Kinder ist lediglich ein Beitrag von 0.89 Euro fürs Mittagessen vorgesehen. Die Stadt hat ihre Zuschüsse zurückgefahren und will den Fehlbetrag durch Spenden vom „Wuppertaler Förderverein Schulmittagessen e.V.” sicherstellen lassen. Stadt, Land und Kommune entziehen sich ihrer Verantwortung und überlassen die Finanzierung von Schulmittagessen bedürftiger Kinder mehr und mehr der Wohltätigkeit. Obendrein wird die Unterstützung nicht ohne Bedürftigkeitsnachweis gewährt. Um sich gegenüber Mitschülern nicht als „Hartz IV-Kinder” zu outen, verzichten viele Schüler auf das Mittagessen und hungern stattdessen.

  • Es gilt, umgehend ein kostenloses Schulmittagessen für alle Kinder einzuführen!


Ungleiche Bildungschancen



Eltern im Hartz IV-Status können ihren schulpflichtigen Kindern keine ausreichende Schulbildung gewähren (weit über 30% der Wuppertaler Schulkinder sind von Hartz IV betroffen). Die Anschaffung von zusätzlichen Lernmitteln (Bücher, Zirkel etc.) ist praktisch unmöglich oder muss vom Munde abgespart werden. Um in einer „Bildungsgesellschaft” jedem Kind und Jugendlichen ausreichend Bildung zu ermöglichen, muss die Anschaffung von Lernmitteln zusätzlich gedeckt werden. Solange es keine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung gibt, müssen die Kommune aber auch die örtliche ARGE, für ausreichende Deckung sorgen1.

  • Hartz IV darf nicht zur Ausgrenzung und zu Bildungsmangel führen!


Leichter Zugang zur Sozialbehörde



Die Wuppertaler ARGE ist für Betroffene telefonisch kaum noch erreichbar. So bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als sich die Finger wund zu wählen, um irgendwann mal irgendeinen ARGE-Mitarbeiter zu sprechen, die oder der dann hoffentlich zuständig ist. Die „Fälle” werden immer häufiger nach dem Rotationsprinzip bearbeitet, ein Rückruf erfolgt in der Regel nicht. Die Betroffenen können ihre Leistungsansprüche vor allem in Notlagen nur noch schwer geltend machen. Das hat meist mit existenziellen Folgen.

Diese „Unerreichbarkeit” der Sozialbehörde ist rechtswidrig2, da die Leistungsgewährung ohne Kommunikationshürden zu erfolgen hat. Es ist unerlässlich, dass die ARGE feste Zeiten einführt, in denen die SachbearbeiterInnen telefonisch erreichbar sind, während der sie ihrer Kommunikationspflicht unbedingt nachkommen müssen. Der „persönliche Ansprechpartner”, wie ihn das Hartz-Gesetz vorsieht3, ist ARGE-Fiktion, jedoch keine Realität für die Betroffenen.

  • Die ARGE hat dafür Sorge zu tragen, dass verbindliche Ansprechpartner klare und nachvollziehbare Aussagen treffen, den jeweiligen „Fall” betreffende Aufklärung leisten und in Notfällen auch sofort und unbürokratisch, dabei in angemessenem Ton, reagieren können.


Verwaltungspraxis



Über die Hälfte aller Bescheide, die uns zur Überprüfung der Einkommensbereinigung und -anrechnung vorgelegt werden, wurden meist zu Ungunsten der Leistungsnehmer falsch berechnet. Nach drei Jahren ist eine derart hohe Fehlerquote nicht mehr zu vertreten. Vor allem bei Änderungsbescheiden fehlt häufig die hinreichende, für die Betroffenen nachvollziehbare Begründung. Gerade die von Leistungsbeziehenden mündlich vorgetragenen Anliegen werden oft pauschal verwehrt. Mit dem Verweis, es könnten keine Leistungen gewährt werden, werden Ansprüche ohne Begründung abgelehnt, die im Sine der Betroffenen hätten beschieden werden müssen. Auch mündlich gestellte Anträge sind von den MitarbeiterInnen korrekt aufzunehmen und rechtmäßig zu bescheiden, denn viele Hartz IV-Bezieher sind mit schriftlichen Antragsverfahren nicht vertraut.

  • Die ARGE hat sicherzustellen, dass Anträge angenommen, Bescheide korrekt und verständlich erlassen und Leistungen rechtskonform gewährt werden.
  • Bei aller notwendiger Kritik an der Verwaltungspraxis der ARGE Wuppertal muss jedoch fairerweise hinzugefügt werden, dass sowohl die Sanktionspraxis als auch die Fehlerquote anderer SGB II-Träger aus Betroffenensicht in der Regel weitaus dramatischer ausfallen.


Leistungen für Unterkunft



Die Pauschalierung von Heizkosten ist rechtswidrig. Das wurde von den für Wuppertal zuständigen Sozialgerichten (Sozialgericht Düsseldorf und Landessozialgericht NRW) mehrfach entschieden. Trotzdem werden die Heizkostenjahresabrechnungen der WSW oder des Vermieters von der Behörde in der Regel nicht übernommen. Nur wer gegen die entsprechenden Ablehnungsbescheide der ARGE Widerspruch einlegt, bekommt die Heizkosten in tatsächlicher Höhe erstatt. Die Mehrheit der Betroffenen jedoch geht leer aus.

  • Die ARGE hat sich auch hier rechtmäßig zu verhalten und Vorauszahlungen sowie Nachforderungen für Heizenergie in tatsächlicher Höhe zu übernehmen!


Beschäftigungszwang statt Arbeitsmarktförderung



In Wuppertal hat sich ein Hartz IV-Arbeitsdienst etabliert: über 2440 Arbeitsgelegenheiten, davon rund 1745 in der Mehraufwandsvariante, so genannte Ein-Euro-Jobs. Das ist faktisch Zwangsdienst, da Betroffene durch zu niedrige, nicht existenzsichernde Regelleistungen wirtschaftlich zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden. Zusätzlich wird ihnen mit Kürzung oder Streichung der Sozialleistungen bei Nichtannahme gedroht. Viele Betroffene nehmen diese Arbeiten noch in der Hoffnung wahr, eine erneute Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu erhalten. Andere hoffen, dass ihnen zumindest nach Ablauf der Maßnahme eine Fortsetzung der Tätigkeit ermöglicht wird. In der Praxis bieten Ein-Euro-Jobs dagegen nur selten eine Job-Perspektive. Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall: Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung herausfand, verschlechtern sich während der Maßnahme sogar die Chancen auf einen regulären Job, da weniger Zeit zur Arbeitssuche bleibt.

Ein-Euro-Jobs sind prekäre Beschäftigungsgelegenheiten, aus denen sich keine arbeitsrechtliche Sicherheiten, sondern ausschließlich Pflichten ableiten lassen. Bei Krankheit oder Urlaub wird nicht einmal die Mehraufwandsentschädigung weitergezahlt. Gepaart mit der Androhung auf Totalsanktion sind Ein-Euro-Jobs menschenunwürdige Zwangsverpflichtungen.

  • Ein-Euro-Jobs müssen in versicherungspflichtige, existenzsichernde Arbeitsgelegenheiten (Entgeltvariante) umgewandelt werden. Diese Umwandlung ist fast kostenneutral. Sozialversicherungspflichtige Jobs werten die Betroffenen auf und stärken ihr Selbstbewusstsein.


Dammbruch bei der Schaffung von Arbeitsgelegenheiten im öffentlichen- und halböffentlichen Raum

Bei diversen Arbeitsdienst-Maßnahmen sind erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit anzumelden (Umbau Stadion Zoo, Schilderreinigung im städtischen Raum, Projekt „Wupperreinigung”, Projekt „Saubere Stadt”, Projekt „Kalkstreuen im Wald von Hand, statt mit dem Hubschrauber” etc.). Bei all diesen Tätigkeiten wird gegen die gesetzlich vorgeschriebene Zusätzlichkeit verstoßen, reguläre Beschäftigungsverhältnisse werden zunehmend durch Arbeitsgelegenheiten verdrängt. Der „Eiertanz” der ARGE und der Stadtverwaltung beim Umbau Stadion Zoo ist noch in guter Erinnerung. Nach einer Stellungnahme der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit glaubte sich die ARGE im Recht, wenn sie Ein-Euro-Jobs in versicherungspflichtige Arbeitsgelegenheiten umwandelt. Dabei geschah dies erst nach massiver Kritik der Handwerkskammer, der WZ und nicht zuletzt des Tacheles.

Mittlerweile wurden 689 Ein-Euro-Job-Maßnahmen in Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante umgewandelt. Dennoch kann diese Kosmetik nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch solche „Projekte” in direkter Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt stehen. Das hat zur Folge, dass versicherungspflichtige Arbeitsstellen vernichtet werden. Arbeitsgelegenheiten müssen dagegen immer auf zusätzliche Tätigkeiten, sprich Ergänzungsarbeiten beschränkt bleiben. Sie dürfen auf keinen Fall reguläre Arbeitsstellen zu tariflichen oder ortsüblichen Arbeitsbedingungen ersetzen, denn das führt zur Aushöhlung des Arbeitsmarktes. Das genaue Ausmaß der Verdrängung regulärer Jobs durch sogenannte Beschäftigungsfördernde Maßnahmen ist dagegen kaum auszumachen. Beharrlich verweigert die ARGE Wuppertal gegenüber dem ARGE-Beirat die Preisgabe der vollständigen und verwertbaren Informationen über die Tätigkeiten, Einsatzgebiete und Maßnahmenträger bei Beschäftigungsprojekten.

  • Arbeitsgelegenheiten, die in Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt stehen, führen zu Verdrängung und Lohndumping. Sie sind sofort einzustellen! Dem Beirat muss umgehend vollständige Auskunft über alle „Hartz IV-Beschäftigungsprojekte” erteilt werden, damit hierüber eine seriöse Diskussion geführt werden kann.


Finanzierung von Sozialberatung



Im Oktober 2008 soll NRW-weit die Förderung für 75 Arbeitslosenzentren und 65 Beratungsstellen eingestellt werden. Arbeitsminister Laumann will die kommunalen Träger von Arbeitslosengeld II zur Weiterfinanzierung der Arbeitslosenzentren und Beratungseinrichtungen bewegen. Bislang jedoch ohne sichtbaren Erfolg. ARGE-Leiter Thomas Lenz hat bislang abgelehnt, die unabhängige „Beratungsdienstleistung” des Tacheles zu finanzieren. Bestendfalls könne man sich „Ratsuchende” zuweisen lassen, was in der Regel für die Betroffenen mit der Androhung von Sanktionen verbunden ist. Eine solche Erbringung von Leistungen im Dienste der ARGE lässt sich aber mit dem Prinzip und Konzept des Vereins Tacheles als unabhängige und niedrigschwellige Sozialberatungsstelle, nicht vereinbaren.

Wöchentlich nehmen ca. 40 Menschen die persönliche Beratung der Tacheles-Mitarbeiter in Anspruch und machen dringenden Bedarf an fachgerechter und unabhängiger Unterstützung deutlich. Es wäre absurd, wenn sich die Betroffenen bei der Behörde beraten lassen sollen, die für den Beratungsbedarf verantwortlich ist. Zudem sind sowohl ARGE als auch Sozialamt schon jetzt damit überfordert, ihren gesetzlich vorgeschriebenen Beratungs- und Informationspflichten nachzukommen.

  • Unabhängige Sozialberatung ist in Wuppertal, NRW und bundesweit durch einen Globalzuschuss zu finanzieren, der Einrichtungen nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Sozialbehörden bringt, deren „Klientel” sie beraten. Die Landesförderung der Sozialberatung muss fortgeführt werden!


Fazit: Hartz IV – Ein Armutszeugnis



Die Hartz IV-Realität kommt für Betroffene einem unfreiwilligen Ausstieg aus der Gesellschaft gleich. Sie haben nicht die materielle Grundlage, sich gesund zu ernähren und sind kaum in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Bild der „Menschen zweiter Klasse” nimmt handfeste Züge an. Verarmung, der Verlust von Rechten und die geringen Aussichten auf dem ersten Arbeitsmarkt haben zur Folge, dass viele Hartz IV-Bezieher resignieren, sich zurückziehen und sich selbst die Schuld für ihre Arbeitslosigkeit zuschreiben. Sie fühlen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Aber das Hartz IV-System hat auch zur Folge, dass sich immer mehr vom Abstieg und Arbeitslosigkeit bedrohte lohnabhängig Beschäftigte teilweise vehement vom Schicksal der Erwerbslosen abzugrenzen versuchen. Sie wollen mit dem „Hartz IV-Elend” nichts zu tun haben und würden sich niemals eingestehen, wie sehr die Hartz-Reformen auch ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse verändert haben. Dabei wird übersehen, dass Erwerbslose und Beschäftigte auf der gleichen Seite stehen. Dass der Druck von Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit auf die Beschäftigten zur ungehemmten Ausbreitung des Niedriglohnsektors beiträgt. Dass die Möglichkeit, nach einem Jahr in die Armut abzugleiten, Beschäftigte zunehmend erpressbar macht und sie die Absenkung der Löhne und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kampflos hinnehmen. Doch nur wenn sich alle von Hartz IV Betroffenen ihrer gemeinsamen Interessen bewusst sind, werden sie in der Lage sein, die Verhältnisse zu verändern.

Tacheles e.V.
Frank Charles Petersohn
Öffentlichkeits- und Kulturarbeit



Fussnoten


1) § 23 Abs. 1 SGB II und § 44 SGB II: Darlehen zur Gewährung von Schulmaterial im Rahmen des unabweisbaren Bedarfs mit gleichzeitigem sofortigen Erlass des Darlehens.



2) § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I: Leistungsgewährung muss ohne „Kommunikationshürden” erfolgen.



2) § 14 SGB II: „persönlicher Ansprechpartner”



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