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Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren in der Sozialgerichtsbarkeit


Autor: Till Koch, Rechtsanwalt FA Arbeitsrecht und FA Sozialrecht, Brakel



unter Bezugnahme auf: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.04.2016 - L 10 SF 22/15 EK AS



I.                   




Zum Sachverhalt/Verfahrensverlauf



Mit dem oben genannten Beschluss hat das LSG den drei Klägerinnen Prozesskostenhilfe für eine Klage in Höhe von insgesamt 7.500,00 Euro gegen das Land Niedersachsen bewilligt.



Im Termin am 10.11.2016 hat der Vertreter des beklagten Landes die Klageforderung in voller Höhe anerkannt. Jede der drei Klägerinnen wird eine Entschädigung in Höhe von 2.500,00 Euro erhalten.



Vorausgegangen ist ein Rechtsstreit gegen das Jobcenter Holzminden. In diesem Verfahren ging es um einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 04.11.2011. Klage wurde am 03.02.2012 erhoben. Dieses Verfahren endet im Termin am 06.10.2015. Bereits am 13.06.2013 wurde um Entscheidung gebeten und Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Am 11.05.2015 folgte eine Verzögerungsrüge nach § 198 GVG. Seit einer Verfügung vom 19.02.2013 hat sich von Seiten des Gerichtes nichts mehr getan. Damit war das Gericht im Ausgangsverfahren zu lange untätig.



Am 10.11.2016 fand ein Termin zur mündlichen Verhandlung in dem Entschädigungsverfahren statt in dem der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft nach telefonischer Rücksprache für sich selbst überraschend die Ansprüche anerkannte.



II.               Rechtliches



1.      Zuständigkeit, Verfahren, Form, Frist



Bei dem geltend gemachten Anspruch auf Gewährung einer Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer handelt es sich nicht um einen Amtshaftungsanspruch i.S.v. Art. 34 Grundgesetz (GG). Es ist daher nicht der ordentliche Rechtsweg, sondern vorliegend der zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet. Denn die grundsätzlich in § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG vorgesehene Zuweisung der Entschädigungsklagen an das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk das streitgegenständliche Verfahren durchgeführt wurde, wird für sozialgerichtliche Verfahren in § 202 Satz 2 SGG modifiziert. Nach dieser Regelung sind die Vorschriften des 17. Titels des GVG (§§ 198-201) mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das LSG, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das BSG und an die Stelle der Zivilprozessordnung das SGG tritt. Für die Entscheidung über die Klage ist daher das LSG Niedersachsen-Bremen zuständig.



Richtiger Beklagter war hier in Niedersachsen das Land Niedersachsen, vertreten durch das Justizministerium. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage statthaft. Ein Vorverfahren ist nicht vorgesehen, wäre aber wohl unschädlich. Frist: Die Klage muss innerhalb von sechs Monaten nach Beendigung des Hauptsachverfahrens erhoben werden.



 



2.      Begründetheit der Klage



Die Verzögerung muss gerügt worden sein. Durch die Verzögerungsrüge muss der Betroffene lediglich sein fehlendes Einverständnis mit der Dauer des Verfahrens zum Ausdruck bringen (vgl. Althammer/Schäuble, NJW 2012, S. 1 <3>). Eine ausdrückliche Bezeichnung als „Verzögerungsrüge“ ist nicht erforderlich (Zimmermann, FamRZ 2011, S. 1905 <1908>).



Sodann ist festzustellen, dass der Rechtsstreit unangemessen lange im Sinne des § 198 GVG gedauert hat. Das BSG geht von einem Jahr plus der angemessenen Bearbeitungszeit (BSG Urteil vom 12.02.2015 B 10 ÜG 11/13 R) aus. Also wird dieser Zeitraum individuell bestimmt werden müssen. Dabei ist insbesondere für Verfahren mit Gutachten, insbesondere mit medizinischen Gutachten eine längere Frist notwendig, bzw. angemessen.



Der § 198 GVG sieht Ersatz sowohl für materielle, als auch für immaterielle Schäden vor. Die Höhe der Regelentschädigung beträgt 1.200,00 Euro pro Jahr, also 100,00 Euro pro Monat, § 198 II Satz 2 GVG.



Übergang des Anspruches nach § 33 SGB II auf die Jobcenter.Da die Klägerinnen teilweise im Leistungsbezug des Jobcenters standen war ein Anspruchsübergang auf das Jobcenter zu diskutieren.



Dieser kommt aber nicht in Betracht, weil Schäden, die nicht Vermögensschäden sind, nach § 11 a II SGB II nicht anrechenbar sind. Daneben findet eine Anrechnung wegen § 11 a III S. 1 SGB II auch nicht statt, da es um eine zweckbestimmte Leistung geht. Den Zweck dieser Leistung haben der Gesetzgeber und der EUGH getroffen. Der Zweck ist der Ausgleich von immateriellen Schäden die aufgrund des überlangen Verfahrens eingetreten sind.



 



Höhe des Anspruchs



Grundsätzlich ist zunächst von 100,00 Euro pro Monat überlanger Verfahrensdauer auszugehen.



Die Höhe des Schadensersatzanspruches wird in das Ermessen des Gerichtes gestellt. Dieser Anspruch ist ein individueller. Er steht der Klägerin zu.



 



III.           Meine persönliche Einschätzung



Ein hervorragendes Ergebnis und ein deutlicher Hinweis an die Justizminister der fortdauernden und systematischen Unterversorgung der Sozialgerichtsbarkeit entgegen zu wirken.



Ich habe im Termin kurz die dramatischen Unterschiede zwischen arbeitsgerichtlichen und sozialrechtlichen Verfahren dargestellt. In der Arbeitsgerichtsbarkeit wird allen Beteiligten eine -zumindest aus meiner Sicht- nahezu vorbildliche Gerichtsbarkeit zur Verfügung gestellt. Nach Erhebung der Klage findet innerhalb von 4 bis 8 Wochen ein erster Gütetermin statt. In dem sind alle Beteiligten gehalten einen Vergleich zu finden. Dies gelingt in der Masse der Fälle (geschätzt 70-90% meiner Fälle) so dass der Kläger (im Regelfall der auf sein Arbeitseinkommen angewiesene Arbeitnehmer) sehr schnell Rechtsklarheit hat und meist innerhalb von wenigen weiteren Wochen auch sein Geld.



In der Sozialgerichtsbarkeit dauern meine Verfahren (Stand einer kleinen Stichprobe Anfang November 2016) vor dem Sozialgericht Hildesheim im Schnitt knapp zwei Jahre. Erst ganz am Ende sehen die Kläger den Richter. Sie erhalten dann mit erheblicher Verzögerung eine Nachzahlung aus Grundsicherungsleistungen die Ihnen vor deutlich mehr als zwei Jahren zugestanden hätte, denn vorausgegangen sind regelmäßig noch ein Verwaltungsverfahren und ein Widerspruchsverfahren. Geht es um eine Rückforderung vom Jobcenter, dann haben Sie ebenfalls erst nach Ablauf dieser Zeit Rechtsklarheit. Das ist ein unzumutbarer Zustand. Dabei muss berücksichtigt werden, dass diese zwei Jahre nur ein Schnitt sind. Einige Verfahren sind nach ca. 12 Monaten zu Ende. Andere dauern bis zu vier Jahren oder länger.



Die Sozialgerichtsbarkeit wird von Seiten der Politik absichtlich unterversorgt. Dies soll zusammen mit den dürftigen Anwaltsgebühren und der hohen Komplexität der Verfahren dazu führen möglichst viele potentielle Kläger davon abzuhalten ihr Recht wahrzunehmen. Zusammen mit der oft systematisch rechtswidrigen Praxis vieler Jobcenter (z.B. bei den Kosten für Unterkunft und Heizung) stellt der Staat so selbst eine große Herausforderung für die Sozial- und Rechtsstaatlichkeit dar.  Hier sollte es besser zu einem Umdenken kommen bevor noch mehr Frustration und Wut erzeugt werden.



IV.              




Fazit



Man sollte sich insbesondere als Anwalt dieser Thematik stellen. Das erfordert eine gewisse Einarbeitungszeit. Insbesondere sollten mindestens die hier zitierten Entscheidungen zur Kenntnis genommen werden.



Die Verfahren lohnen sich auch für den Anwalt, je länger die Verzögerung gedauert hat und umso mehr Kläger man hier vertreten kann.



Ich erhebe die Verzögerungsrüge, die ich auch als solche benenne regelmäßig nach Ablauf eines Jahres. Eine Begründung erfolgt nicht. Weitere Rügen sind möglich aber nicht notwendig. Klagen für nur eine Person für einen kurzen Zeitraum sind nicht zu empfehlen. Es empfiehlt sich aber in jedem Fall immer so zu arbeiten, das von der eigenen Seite die Klage mit Erhebung begründet wird und gerichtliche Verfügungen zeitnahe abgearbeitet werden. Für eine selbst verschuldete Verzögerung wird es keine Entschädigung geben.



Überlegungen ob die Stimmung vor Gericht dadurch schlechter wird oder nicht, halte ich für unangemessen. Wenn den Klägern bis zu fünf verschiedene Richter zugemutet werden, dann muss auch ein Gericht Kritik aushalten. Außerdem ist dies keine Kritik die sich an einen bestimmten Richter richtet. Ein Vorwurf ist damit nur in Hinblick auf das Land verbunden, denn dieses stellt der Gerichtsbarkeit nicht genug Kapazitäten zur Verfügung.



Wenn die Verfahren in der Sache selbst beendet sind, sollte dies in der Akte notiert werden. Gleichzeitig sollten die Mandanten gefragt werden, ob sie ein solches Verfahren wünschen. Dies sollte unter Hinweis auf die Sechsmonatsfrist erfolgen. Diese ist unbedingt zu beachten.



Bei bedürftigen Mandanten sollte zuvor ein isolierter PKH-Antrag mit Klageentwurf gestellt werden, weil diese Verfahren nicht gerichtskostenfrei sind. Wird PKH bewilligt, fallen allerdings keine Gerichtskosten an.



Der Beschluss LSG Niedersachen-Bremen v. 28.04.2016 - L 10 SF 22/15 EK AS



Till Koch, Rechtsanwalt, Brakel

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