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Grundrechte hinter Stacheldraht. Das BVerfG zu § 1a AsylbLG

von Roland Rosenow

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 zu den Sanktionsvorschriften im SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) war zu erwarten, dass auch die Sanktionsvorschrift im AsylbLG kippen würde, wenn das BVerfG sie zu prüfen hat (Kanalan/Seidl: Wegsanktioniert). Doch es ist anders gekommen: Mit Beschluss vom 12.5.2021, veröffentlicht am 7.7.2021, hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde gegen die Sanktionsvorschrift des § 1a AsylbLG mit Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des 1. Senats zurückgewiesen (1 BvR 2682/17). Verfahrensgegenständlich war die ursprüngliche Fassung von § 1a AsylbLG, die vom 1.9.1998 bis zum 28.2.2015 Kraft war.

Die Begründung ist frappierend. Sie nimmt Bezug auf die Entscheidungen des BVerfG vom 9.2.2010, 18.7.2012, 23.7.2014 und 5.11.2019, an denen ausdrücklich festgehalten wird. Die Kammer betont, dass die Gewährleistung des Existenzminimums sich nicht in einen „'Kernbereich' der physischen und einen 'Randbereich' der sozialen Existenz aufspalten” lasse. Entscheidend sei, dass die „Untergrenze eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht unterschritten” werde und „die Höhe der Leistungen insgesamt tragfähig begründbar” sei. Dennoch sei § 1a AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar. Denn § 1a AsylbLG „entzieht keine Leistungen”. So hat das bislang niemand gesehen. An sich scheint die Vorschrift insoweit eindeutig zu sein. Personen, die die hier gefassten Voraussetzungen erfüllen, „erhalten Leistungen nach diesem Gesetz nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist.” (§ 1a AsylbLG idF v. 25.8.1998) Nach dem Verständnis der 3. Kammer des 1. Senats bedeutet das aber nicht, dass die Leistungen gekürzt würden, sondern lediglich, dass „eine Umstellung existenzsichernder Leistungen von einer pauschalen Gewährleistung auf eine im Einzelnen festzustellende Bedarfsdeckung” stattfindet. Der Gesetzgeber werde den „verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sicherung der menschenwürdigen Existenz mit der Norm in dieser Fassung insoweit gerecht, als er Leistungen für notwendige existenzsichernde Bedarfe durch Anspruchsnormen” sichere. Er könne dazu „Generalklauseln nutzen, Ermessen einräumen und unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden”. Das steht in offenem Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Im Urteil vom 9.2.2010 hatte das BVerfG ausgeführt:

„Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. […] Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen […]. Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen.” (Rn. 138, 139)

Gleichwohl verweist der aktuelle Beschluss an dieser Stelle auf Rn. 173 des Sanktionsurteils vom 5.11.2019. Dort aber findet sich kein Beleg für die hier vertretene Auffassung, nach der der Gesetzgeber die Gewährleistung existenzsichernder Leistungen auch durch Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder gar durch die Einräumung von Ermessen sicherstellen könne. Ebenso wenig gibt das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 her, dass der Gesetzgeber den Bedarf auch „in Gutscheinen, Sachmitteln oder durch Barmittel, pauschal oder in Orientierung an einem Warenkorb, oder eben nach einzeln nachzuweisenden Bedarfen” decken könne, wie die Begründung unter Rn. 22 glauben machen will. Tatsächlich lässt die bisherige Rechtsprechung des BVerfG den Schluss zu, dass die Regelbedarfe nach dem SGB II und dem SGB XII die Untergrenze des verfassungsrechtlich noch erlaubten markieren. Im Urteil vom 23.7.2014 entschied das BVerfG, die auf das Urteil vom 9.2.2010 hin angepassten Regelbedarfe seien mit dem GG „noch” (Rn. 73) vereinbar, was deutlich nach einem zähneknirschenden „gerade noch” klang.

Die Begründung des Beschlusses vom 12.5.2021 ist offensichtlich falsch, soweit in ihr ausgeführt wird, ihre tragenden Argumente stünden mit den o.g. genannten vier Entscheidungen des BVerfG im Einklang. Insoweit die Kammer meint, § 1a AsylbLG i.d.F. v. 25.8.1998 bedeute eigentlich nur eine Umstellung der Berechnungsmethode zur Bezifferung des Existenzminimums, hat sie eine schwere Schlagseite ins Absurde. Dazu kommt, dass die Begründung des Nichtannahmebeschlusses zur Annahmefähigkeit (§ 93b BVerfGG) gar nichts sagt. Stattdessen wird die Begründetheit der Beschwerde verneint. Die Zurückweisung einer Verfassungsbeschwerde, weil sie unbegründet sei, fällt aber nicht in Zuständigkeit der Kammer, die lediglich die Annahmefähigkeit prüft oder im Fall offensichtlicher Begründetheit stattgeben kann (§ 93c BVerfGG).

Eine Begründung, die nicht nur mit unzutreffenden Belegen arbeitet, sondern auch so unschlüssig ist, dass sie das, was tenoriert ist, nicht tragen kann, ist vielleicht ein Orakel, aber keine Begründung. Dass die Kammer den Beschluss dennoch mit einem als Begründung getarnten Text versehen hat (was sie nicht musste, § 93 Abs. 1 S. 3 BVerfGG), lässt jedenfalls darauf schließen, dass sie etwas mitteilen wollte.

Zunächst ist offensichtlich, dass die Kammer die Einheitlichkeit des Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen verteidigt. Sie stellt sich gegen das BSG, das im hier zugrunde liegenden Urteil angefangen hat, dieses Paket aufzuschnüren. Hätte die Kammer die Verfassungsbeschwerde mit nicht begründetem Nichtannahmebeschluss zurückgewiesen, hätte das vielleicht dahingehend verstanden werden können, dass das BVerfG bereit sei, die Einheitlichkeit des Existenzminimums zur Diskussion zu stellen. Die Angehörigen der 3. Kammer des 1. Senats, die alle am Sanktionsurteil vom 5.11.2019 mitgewirkt haben, werden darüber hinaus, anders als die Öffentlichkeit, genau wissen, inwieweit ihre Auffassung im 1. Senat geteilt wird. Die Entscheidung über die Sanktionen im SGB II vom 5.11.2019 erging „im Ergebnis einstimmig” (Rn. 225) – eine Formulierung, die das BVerfG regelmäßig dann verwendet, wenn der Senat zwar den Tenor einstimmig beschließt, über die Gründe aber uneins ist. Dazu kommt die eklatante Widersprüchlichkeit der Begründung des Sanktions-Urteils vom 5.11.2019, die keine Zweifel daran lässt, dass der Tenor ein Kompromiss ist, hinter dem scharfe Dissense liegen. Vor diesem Hintergrund mag es sein, dass die Kammer Fakten schaffen wollte, um dem Senat, der über kurz oder lang wird entscheiden müssen, ob § 1a AsylbLG verfassungswidrig ist, die Richtung vorzugeben. Jedenfalls muss die Kammer die aktuelle Fassung von § 1a AsylbLG, nach der den Betroffenen „nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt” werden, wohl für verfassungswidrig halten. Die Botschaft der Kammer an die Öffentlichkeit könnte also lauten: Eine Verfassungsbeschwerde gegen die aktuelle Fassung von § 1a AsylbLG sollte zum Erfolg führen.

Andererseits weist die Kammer auch denjenigen den Weg, die an den Sanktionen nach § 1a AsylbLG festhalten wollen. Indem sie zwar an der Einheitlichkeit des Existenzminimums festhält, aber die Vorgaben, dass dieses durch den Gesetzgeber in einem transparenten und plausiblen Verfahren beziffert werden muss, nicht nur aufgibt, sondern negiert, eröffnet sie die Möglichkeit einer Sanktionsvorschrift, die nach der Begründung des Beschlusses vom 12.5.2021 verfassungskonform wäre, aber in der Praxis zu denselben Sanktionen führte wie die aktuelle Fassung von § 1a AsylbLG. Dass die Kammer sich ohne jede Not zu der Auffassung versteigt, der Gesetzgeber könne in Bezug auf existenzsichernde Leistungen sogar Ermessen einräumen, sollte diejenigen alarmieren, die in der Entscheidung die frohe Botschaft sehen, dass § 1a AsylbLG in der aktuellen Fassung demnächst fällt. Auch in Berlin sitzen Menschen, die lesen können.

Mit ihrer doppelten Botschaft leistet die Kammer einer Entwicklung Vorschub, die sich im Ausländer- und Sozialrecht an vielen Stellen beobachten lässt. Vorschriften werden so formuliert, dass eine verfassungskonforme Auslegung nicht ausgeschlossen wird. Doch zugleich werden durch die Formulierung Signale gesetzt, die zu einer verfassungswidrigen Praxis einladen. Die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte wird nicht ganz unmöglich gemacht, aber durch verworrene Vorschriften und prozessuale Hindernisse so weit als möglich erschwert. Auf diese Weise wird ein Stacheldrahtverhau aus Vorschriften ausgerollt, der den Weg zum Recht versperrt – aber eben nicht ganz. Wer über die Ressourcen verfügt, das BVerfG anzurufen, der schafft es auch, den Stacheldraht zu überwinden und sein von der Verfassung garantiertes Recht zu realisieren. Auf diese Weise kann man bestimmten Gruppen ihre verfassungsmäßigen Rechte vorenthalten und dennoch hoffen, dass die zugrunde liegenden Vorschriften in Karlsruhe Bestand haben, weil sie dort auf kunstvolle Weise verfassungskonform ausgelegt werden.

Roland Rosenow
www.sozialrecht-rosenow.de
veröffentlicht am 14.7.2021

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