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Hintergrundinformationen zum anstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV – Sanktionen

Nach fast 15 Jahren Sanktionspraxis und Sanktionen in Höhe von fast einer Million Sanktionen jährlich und Milliarden nicht gezahlter Existenzsicherungsleistungen wird nun endlich das Sanktionsregime verfassungsgerichtlich beurteilt.

Am 5. Nov. 2019 wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein Urteil zur Zulässigkeit der Hartz IV-Sanktionen verkünden. Es geht dabei um die Frage, ob SGB II-Sanktionen gegen das Menschenwürdeprinzip verstoßen oder halt nicht. Bisher hat das BVerfG in zwei Urteilen rausgearbeitet, dass „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben als unerlässlich zusichert ein unverfügbares Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt (Urt. v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09).

Im Jahr 2014 hat das BVerfG entschieden, dass die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit dem Grundgesetz "derzeit noch vereinbar" sind (Beschl. v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12).

Demnach müsste das BVerfG am 5. Nov. zu dem Ergebnis kommen, dass die Menschenwürde absolut, unverfügbar und keiner Abwägung zugänglich ist.

Die Sanktionen im SGB II stellen gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte dar und sind nicht dazu geeignet, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Sie führen vielmehr zu Verschuldung, Obdachlosigkeit und immer weiterer Entfernung vom Arbeitsmarkt. Daher gehören die SGB II - Sanktionen nach Ansicht von Tacheles und diverser Wohl- und Sozialverbände, dem DGB  abgeschafft!

Somit wie das BVerfG bei dem anstehenden Urteil diese „Unverfügbarkeit“ des Existenzminimums weiterentwickelt oder ob und wie es Gründe zur Einschränkung der Unverfügbarkeit findet. Es ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht die SGB II – Sanktionen deutlich beschränken wird. Insofern wird das Urteil vom 5. Nov. für die Lebenssituation von fast 6 Mio. Menschen im Hartz IV-Bezug eine erhebliche Relevanz haben, genauso aber auch, kann die Drohung mit der Existenzvernichtung durch die SGB II- Sanktionen weiter dazu genutzt werden, Arbeitende in den Niedriglohn und prekäre Beschäftigung zu drängen.

Der Verein Tacheles war vom Bundesverfassungsgericht als sachverständiger Dritter in dem Sanktionsverfahren bestimmt worden und hatte sich mit einer umfassenden juristischen Stellungnahme vehement gegen Sanktionen ausgesprochen. Ebenfalls haben sich die Wohlfahrts- und Sozialverbände, der DGB und der Deutsche Anwaltsverein deutlich gegen die bisherige Sanktionspraxis positioniert. In Vorbereitung  der Verhandlung im Jan. 2019 hatte Tacheles eine Onlineumfrage zu den Folgen und Wirkungen der Hartz IV – Sanktionen getätigt. An dieser hatten sich über 21.000 Menschen beteiligt. Damit konnte dem Verfassungsgericht dezidiert die Folgen und Wirkungen der Hartz IV- Sanktionen aufgezeigt werden. An der Umfrage haben sich rund 17.000 Leistungsbeziehende, rund 3.500 Sozialarbeiter*innen und Anwälte*innen und rund 1500 Jobcentermitarbeiter*innen beteiligt.

Zu den Ergebnissen der Onlinebefragung: 86,9 % aller Befragten hielten Sanktionen „nicht für geeignet“, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80% der Umfrageteilnehmer*innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2%) sehen eine konkrete Disqualifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn.

Dass Sanktionen auch ganze Haushalte treffen, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, sehen 83,9% der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9% alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.

Weit über die Hälfte (64,9%) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 % haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3%) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3%) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.

63,3% aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5% „Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung“ an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40% der Teilnehmenden. Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4% der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0%) erlebte „rechtswidriges oder willkürliches“ Verhalten“ durch die Jobcenter.

Neben der Umfrage hatte Tacheles den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben ihre Erfahrungen und Position mit den Sanktionen direkt dem Verfassungsgericht mitteilen zu können. Von dieser Möglichkeit haben über 6.000 Menschen Gebrauch gemacht. Diese Rückmeldungen sind berührend, aber auch erschreckend, da sie die Wirkung, die Verzweiflung der Betroffenen authentisch wiedergeben. Somit haben wir den Menschen die Möglichkeit geboten, sich unmittelbar mit ihren Anliegen an das oberste deutsche Gericht wenden zu können.  

Hintergrundmaterial:

+ Tacheles Online-Befragung zu Folgen und Wirkungen von Sanktionen: https://tacheles-sozialhilfe.de/fa/redakteur/Harald_2019/Auswertung_Tacheles_Onlinebefragung-Teil_1.pdf

+ Rückmeldungen an das BVerfG: https://tacheles-sozialhilfe.de/fa/redakteur/Aktuelles/Auswertung_Tacheles_Online-Befragung_-_Teil_C.pdf

+ Tachelesstellungnahme im Sanktionsverfahren (25.02.2017)

Wir werden berichten.
Harald Thomé / Tacheles e.V.

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