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Info für BeraterInnen

Nur in zwei Fällen darf das Amt „aufrechnen”, also eine Rückforderung einbehalten und nur ein gekürztes ALG II auszahlen: (1.) Wenn ein Darlehen (nach § 23 Abs. 1 SGB II) zurückgezahlt werden muss oder wenn (2.) vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht wurden (§ 43 SGB II). Darüber hatte die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Erwerbslosengruppen (KOS) im A-Info 114 (Juni 2007, Herunterladen als PDF-Datei) ausführlich informiert.

„Und wie verhält es sich, wenn zuviel ALG II ausgezahlt wurde, weil bei JobberInnen das anzurechnende Einkommen schwankt?”



Diese Frage wurde uns mehrfach von SozialberaterInnen gestellt.

Das Problem tritt vor einem laufenden Einkommen aus abhängiger Beschäftigung auf, das monatlich in unterschiedlicher Höhe anfällt. Laufende Einnahmen sind in dem Monat anzurechnen, in dem sie zufließen (§ 2 Abs. 2 ALG-II-VO neu). Das macht aber im wirklichen Leben Probleme: Denn der Verdienstnachweis liegt meistens erst dann vor, wenn das ALG II längst ausgezahlt wurde. Viele Ämter rechnen schwankendes Einkommen deshalb erst verzögert im Folgemonat (oder sogar erst im übernächsten Monat) nach dem Zufluss an. In der Praxis wird somit eine laufende, schwankende Einnahme wie eine einmalige Einnahme behandelt – obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Denn eine Anrechnung im Folgemonat ist nach § 2 Abs. 4 ALG-II-VO ausdrücklich nur bei einmaligen Einnahmen zulässig.

Diese praktizierte, verzögerte Anrechnung führt dazu, dass permanent entweder zu viel oder zu wenig ALG II ausgezahlt wird.1

Tipp: Wenn das Amt zwar verzögern und ohne Rechtsgrundlage anrechnet2 die Anrechnung ansonsten aber korrekt ist, dann empfehlen wir: Schwamm drüber! Es macht keinen Sinn auf eine gesetzeskonforme Anrechnung zu bestehen, da es schlicht kein Verfahren gibt, das gesetzeskonform und praktikabel ist!

Etwas anderes gilt natürlich, wenn durch die verzögerte Anrechnung eine Notlage entsteht: Wenn ein in der Vergangenheit zugeflossenes, relativ hohes Einkommen in einem Monat angerechnet wird, in dem nur ein relativ niedriges Einkommen erzielt wird und dieses zusammen mit dem gekürzten ALG II nicht zum Leben reicht…

Aber zurück auf Los: Warum darf eine Überzahlung nicht aufgerechnet werden?

Eine Überzahlung ist rechtlich gesehen eine „zu Unrecht erbrachte Leistung”. Der Verwaltungsakt („Bescheid”) über das zuviel gezahlte ALG II ist aufzuheben. Dabei gelten die Spielregeln des § 48 SGB X (Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse): Wenn Einkommen zufließt, dann ist der Bescheid rückwirkend ab Beginn des Anrechnungszeitraums – also ab dem 1. eines Monats – aufzuheben (§ 48 Abs. 1. SGB X).

Bei einem ordnungsgemäßen Verfahren hat das Amt drei Verwaltungsakte zu erlassen:

  1. Der alte Bewilligungsbescheid wird (nach § 48 SGB X) aufgehoben.
  2. Der Leistungsanspruch wird entsprechend dem zugeflossenen Einkommen neu festgesetzt3.
  3. Es wird eine Erstattungspflicht festgestellt und die Höhe des zu erstattenden Betrags – also der Überzahlung – festgesetzt.


Letzteres ist in § 50 SGB X geregelt. Dort steht: „Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten.”4

Kommt es aufgrund eines Einkommenszuflusses zu einer Überzahlung, dann hat das Amt also tatsächlich einen Anspruch auf Erstattung. Auf den Vertrauensschutz5 nach § 45 SGB X können sich ALG II-Bezieher dabei nicht berufen, denn der § 45 SGB X gilt nur, wenn der Bescheid von Anfang an rechtswidrig war. Hier geht es aber um den anderen Fall, dass ein bei Erlass rechtmäßiger Bescheid aufgrund des Einkommenszuflusses nachträglich rechtswidrig wird. Wenn Änderungen in einem laufenden Bewilligungszeitraum eintreten, egal ob der Zeitraum noch läuft oder bereits abgeschlossen ist, wird immer nach § 48 SGB X (ohne Vertrauensschutz) aufgehoben.

Wenn das Amt einen rechtmäßigen Anspruch auf Erstattung einer Leistung aufgrund der Änderung der (Einkommens-) Verhältnisse hat, wird die Pflicht zur Rückzahlung erst dann wirksam, wenn keine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II mehr vorliegt.6 Denn solange den Leistungsberechtigten kein Verschulden trifft, gibt es für eine Aufrechnung keine Rechtsgrundlage! Im Gegenteil: Grundsätzlich darf bei allen Leistungen der Sozialgesetzbücher nicht aufgerechnet werden, wenn dadurch Hilfebedürftigkeit nach SGB II / SGB XII entsteht (§ 51 SGB I Abs. 2) – was ja beim ALG-II-Bezug naturgemäß schon gegeben ist.

Einzige Ausnahme: Es darf aufgerechnet werden, wenn „der Hilfebedürftige [die Überzahlung] durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben veranlasst hat.” (§ 43 SGB II) In diesem Fall darf bis zu 30 Prozent der maßgeblichen Regelleistung sowie zusätzlich der Zuschlag nach § 24 in voller Höhe aufgerechnet werden.

Und genau das – Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit – unterstellen die Ämter oftmals, um aufrechnen zu können. „Vorsätzlich” handelt, wer bewusst und willentlich falsche Angaben macht, um (ungekürztes) ALG II zu erhalten. „Grob fahrlässig” handelt, wer „schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen” nicht anstellt „und daher nicht beachtet […], was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste”.7

Darüber wird man sich im Regelfall mit den Ämtern streiten müssen, wobei erfahrungsgemäß ein Widerspruch, der übrigens aufschiebende Wirkung hat (!), oftmals nicht reicht, sondern der Gang zum Sozialgericht erforderlich wird.

Laut eines von der BA selbst genannten Beispiels handelt nicht grob fahrlässig, wer einen Einkommenszufluss erst 12 Kalendertage später beim Amt angibt.8 Allerdings vertritt die BA grundsätzlich schon die Auffassung, dass auch eine unterlassene Angabe ein „Verschulden” nach § 43 SGB II sein kann. Dies ist umstritten: In der Parallelvorschrift im SGB XII zur Aufrechnung ist explizit von „pflichtwidrigem Unterlassen” die Rede. Da diese Formulierung im SGB II fehlt, spricht vieles dafür, dass hier nur aufgerechnet werden darf, wenn die unrichtigen Angaben durch aktives Handeln zustande kommen.9

In der Praxis drängen die Ämter Leistungsberechtigte auch dazu, eine Vereinbarung zu unterschreiben, in der die Aufrechnung geregelt wird. Solche Vereinbarungen müssen nicht unterschrieben werden! Wurde eine solche Vereinbarung, die einen öffentlich-rechtlichen Vertrag darstellt, unterschrieben, dann kann diese jederzeit für die Zukunft widerrufen werden (§ 46 Abs. 1 SGB I). Da der Vertragsinhalt insgesamt rechtswidrig ist, denn die vereinbarte Aufrechnung unterläuft die Vorschriften der §§ 51 SGB I und 43 SGB II ist er ohnehin „unwirksam”. Es handelt sich um einen nicht zulässigen Verzicht auf Sozialleitungen durch Umgehung von Rechtsvorschriften (§ 46 Abs. 2 SGB I).

Einige Ämter gehen nicht den Weg der Aufrechnung, sondern versuchen den Erstattungsanspruch über Mahn- und Inkassoverfahren einzutreiben, wobei mitunter auch mit Kontopfändungen und anfallenden Gebühren gedroht wird. Wenn eine Kontopfändung ansteht, sollte umgehend bei dem Gericht, dass die Pfändung verfügt hat, ein dauerhafter Pfändungsschutz nach § 850 k ZPO beantragt werden.10

Die Lage ist äußerst unbefriedigend: Auch in den Fällen, in denen die Ämter eindeutigen Rechtsbruch begehen, ist die Rechtsdurchsetzung mit erheblichem Aufwand verbunden, der viele überfordert. So sehr wir empfehlen, Leistungsberechtigte auch zu Klagen zu ermutigen und ihnen die Scheu vor dem Sozialgericht zu nehmen, so gilt andererseits: In der Beratung ist auch zu klären, welche Schritte sich ein Ratsuchender selbst zutraut oder ob zwingend Unterstützung und Begleitung notwendig ist – und ob diese im Einzelfall von den BeraterInnen auch geleistet werden kann! Gewerkschaftsmitglieder können natürlich auch bei ihrer Gewerkschaft um Rechtsschutz nachsuchen.

Merke:



Kein Verschulden – keine Aufrechnung – keine Kürzung des ALG II zulässig!

An diesem Info-Blatt haben Frank Jäger (Tacheles e.V. Wuppertal) und Martin Künkler (KOS) mitgewirkt.



Fussnoten


1) Nach § 2 Abs. 2 ALG-II-VO kann bei schwankendem Einkommen auch mit einem monatlichen Durchschnittswert für den Bewilligungszeitraum gearbeitet werden. Dies kann ggf. das Ausmaß der Über- und Unterzahlung abmildern aber das Problem nicht wirklich lösen.



2) Das heißt, bei einer erfolgten, vorherigen Überzahlung also faktisch doch aufrechnet.



3) Aufhebungs- und Erstattungsbescheid werden in der Praxis häufig zusammengefasst.



4) Bei vorläufigen Bescheiden und wenn ein Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt wurde gibt es eine Bagatellgrenze in Höhe von 20 €, bis zu der keine Korrektur im Nachhinein stattfindet (§ 2 Abs. 3 ALG-II-VO).



5) Nach diesem Vertrauensschutz muss nichts erstattet werden, wenn die Leistung bereits verbraucht ist und den Leistungsberechtigten kein Verschulden trifft.



6) Dabei laufen auch keine zusätzlichen Schulden auf. Denn die heftige Verzinsung in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 50 Abs. 2a SGB X gilt nur bei Forderungen gegen Einrichtungen und ist hier nicht anzuwenden.



7) BA Hinweise zu § 43 SGB II, Rz. 43.5



8) BA Hinweise zu § 43 SGB II, Rz. 43.2



9) Conradis in LPK-SGB II, § 43 Rz. 9



10) Rechtliche Grundlage ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20.12.2006 (VII ZB 56/06), womit diese schon für Arbeitseinkommen bestehende Regelung auf die Fälle wiederkehrender Sozialleistungen wie des ALG II ausgedehnt wurde.



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