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Jobcenter Wuppertal streicht rechtswidrig die Leistungen von wohnungs- und obdachlosen Menschen
Mit der Bürgergeldreform wurden auch die Regeln für die Erreichbarkeit angepasst. Insbesondere für obdachlose Leistungsbeziehende sollte dadurch ein vereinfachter Zugang zu existenzsichernden Leistungen ermöglicht werden.
Im Allgemeinen müssen Bürgergeld-Beziehende werktäglich für das Jobcenter erreichbar sein, also (postalische) Mitteilungen und Aufforderungen des Jobcenters zur Kenntnis nehmen können. Diese Regelung wurde angepasst, so dass es nun auch ausreicht, „wenn die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person sicherstellt, dass Mitteilungen und Aufforderungen durch Dritte zur Kenntnis genommen werden können und eine entsprechende Information durch diese an die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person erfolgt.“ (§ 2 Abs. 1 S. 2 ErrV)
Für Wohnungs- und Obdachlose wurden in der neuen Erreichbarkeitsverordnung (ErrV) die Voraussetzungen gelockert, um die Hürden für den Bezug existenzsichernder Leistungen für diese Menschen herabzusetzen:
Können Sie die postalische Erreichbarkeit nicht durch Dritte, also z.B. Freunde, Verwandte oder eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, wie in Wuppertal die Diakonie, sicherstellen, so haben sie stattdessen die Möglichkeit sich einmal im Monat persönlich beim Jobcenter zu melden und mitzuteilen, auf welchem Weg eine Kontaktaufnahme für das Jobcenter möglich ist (§ 2 Abs. 4 ErrV). Als Kontaktmöglichkeiten können z.B. „Mobil- oder Festnetznummer (auch von Dritten), Online über Postfach-Nachricht, eine abweichende Postanschrift“ angegeben werden (Fachliche Weisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 7b SGB II, S. 5).
Das Jobcenter Wuppertal ignoriert diese Rechtslage jedoch und nutzt die Gesetzesreform, um Leistungsbeziehenden ohne festen Wohnsitz weitere Steine in den Weg zu legen und die Hürden für den Leistungsbezug zu erhöhen. So müssen Wohnungslose in Wuppertal nicht nur postalisch erreichbar sein (wie alle Leistungsbeziehenden), sondern zusätzlich einmal im Monat im Jobcenter vorsprechen, um mitzuteilen, dass sich an der bisherigen postalischen Erreichbarkeit und in den wirtschaftlichen Verhältnissen nichts geändert hat.
Tun sie dies nicht, werden die Leistungen für den Zeitraum, in dem sie diese Vorgaben nicht erfüllt haben, zurückgefordert.
Beispielbescheid über Aufhebung und Erstattung wegen Nichtvorsprache in Höhe von 1576,40 EUR
Diese Vorgabe, dass Personen, die die Erreichbarkeit über die Diakonie oder Dritte sicherstellen, zusätzlich noch einmal im Monat vorzusprechen haben, verstößt gegen geltendes Recht. Die Regelung der monatlichen Vorsprache wurde nur für die Obdach- und Wohnungslosen eingerichtet, die nicht die werktägliche Erreichbarkeit erfüllen (§ 2 Abs. 4 ErrV).
Ferner konstruiert das Jobcenter eine Pflicht, dass Wohnungs- und Obdachlose mitzuteilen hätten, dass sich nichts geändert habe und begründet darüber die Befugnis zur Aufhebung der jeweiligen Bescheide. Rechtlich existiert lediglich eine Pflicht, Änderungen mitzuteilen, die für die Leistung erheblich sind (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Die Pflicht, mitzuteilen, dass sich nichts geändert habe, entspringt einzig der Fantasie des Jobcenters Wuppertal.
Das planmäßige rechtswidrige Vorgehen des Jobcenters Wuppertal wird durch dieses Infoschreiben der Sozialplanung der Wuppertaler Stadtverwaltung aus März 2024 und dieses Infoschreiben von April 2024 deutlich, in dem die neue Gängelung vorgestellt wird und auch z.B.im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid gegen einen Betroffenen vom 7.10.2024. In diesem kann man nachlesen, wie die vorgebliche Pflicht zur Mitteilung, dass keine Änderung vorliegen, konstruiert wird.
So wird für Menschen, die aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit ohnehin mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sind und die oftmals auch mit anderen Problemen, wie Schulden, Sucht oder psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben, die Hürde für den Bezug existenzsichernder Leistungen hochgesetzt. Zugleich werden die bereits bewilligten Leistungen nachträglich vom Jobcenter Wuppertal entzogen und zurückgefordert, falls die persönliche Vorsprache nicht erfolgt war. Folgen sind bitterste Armut und Mittellosigkeit, Schulden und das Ruhen des Krankenversicherungsschutzes, so dass ärztliche Behandlungen, Therapien, Substitution etc. nicht mehr möglich sind.
Wenn Leistungen wieder bewilligt werden, kommt es dann zur Aufrechnung der Rückforderungen des Jobcenters, d.h. die Regelleistungen werden um 30 % = 168,90 EUR zur Abgeltung der angeblichen Schulden gekürzt.
Das ist ein ausgeklügeltes System von Kürzungen, Schikane und Rechtsbruchs gegen Wohnungs- und Obdachlose durch das Jobcenter Wuppertal.
Sich gegen das Jobcenter zur Wehr zu setzen und wieder Leistungen zu erhalten, stellt für die Betroffenen eine bürokratische Herausforderung dar, die für viele Wohnungslose mit multiplen Problemlagen, kaum bis gar nicht zu überwinden ist. Ihre Situation wird dadurch verfestigt und die Überwindung ihrer Problemlage(n) nahezu unmöglich.
Hier sind jetzt die Wuppertaler Beratungsstellen, insbesondere diejenigen die mit Wohnungslosen zu tun haben, gefragt, aktiv zu werden. Diese Beratungsstellen sollten jetzt aktiv auf die Menschen zugehen und sie fragen, ob sie Opfer solcher rechtswidrigen Verwaltungspraxis geworden sind und ihnen dann helfen dagegen vorzugehen.
Erste Hilfe für BeraterInnen und Betroffene
1. Anhörungsschreiben
Hat das Jobcenter ein Anhörungsschreiben wegen der geplanten Aufhebung und Rückforderung geschickt, muss nicht geantwortet werden. Es kann aber geantwortet werden.
--> Musterantwort bei Anhörung
2. Aufhebungs- und Erstattungsbescheid
Hat das Jobcenter einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid geschickt und ist dieser noch nicht rechtskräftig (d.h. die einmonatige Widerspruchsfrist ist nicht abgelaufen), sollte Widerspruch eingelegt werden.
3. Überprüfungsantrag, wenn Aufhebungs- und Erstattungsbescheide schon bestandskräftig sind
IIst der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid schon bestandskräftig (also die Widerspruchsfrist abgelaufen), kann der Bescheid immer noch durch einen Überprüfungsantrag nachträglich angegriffen werden.
--> Musterüberprüfungsantrag
Abschließende Bewertung:
Diese Praxis des Jobcenters geht einher mit der neuen Vertreibungspolitik der Stadtverwaltung gegen obdach- und wohnungslose Menschen. Übernachtungsplätze werden seit Neuestem von Ordnungsamt und Straßenreinigung gezielt mit Wasser bespritzt und damit nicht nutzbar gemacht. Dies ist eine Politik der Vertreibung von wohnungs- und obdachlosen Menschen aus dem öffentlichen Raum. Diese Vertreibungspolitik verstößt gegen nationales und internationales Recht.
Das Jobcenter Wuppertal beteiligt sich mit der von uns beschrieben Praxis aktiv an der Schikanierung und Diskriminierung von wohnungs- und obdachlosen Menschen.
Der Verein Tacheles fordert die Leitung des Jobcenters Wuppertal auf:
- diese rechtswidrige Praxis der erzwungenen monatlichen Vorsprache und der Verpflichtung zur Mitteilung von „Nicht-Änderungen“ unverzüglich einzustellen,
- alle etwaige Aufhebungs- und Erstattungsbescheide von Amtswegen aufzuheben und etwaige rechtswidrige Aufrechnungen an die Betroffenen wieder auszuzahlen.
Zugleich möchten wir die Betroffenen und die Beratungsstrukturen, die Wohnungs- und Obdachlose unterstützen und ermutigen, sich zur Wehr zu setzen. Geben Sie diese Informationen weiter und unterstützen Sie die Betroffenen bei der Einlegung von Rechtsmitteln und Gegenwehr.
Beratungsstellen oder Anwält*innen mit Schwerpunkt Sozialrecht können in diesen Fällen helfen und können über www.sozialportal.net gefunden werden.
Andere Beratungsstellen können sich für Rückfragen in diesen Fällen gerne an Tacheles wenden. Nutzen Sie dafür die E-Mailadresse: info@tacheles-sozialhilfe.org
Material:
- Beispielbescheid des JC Wuppertal über Aufhebung und Erstattung wegen Nichtvorsprache in Höhe von 1576,40 EUR
- Infoschreiben der Sozialplanung der Wuppertaler Stadtverwaltung aus März 2024
- Infoschreiben über neue Verwaltungspraxis des JC von April 2024
Harald Thomé & Florian Schilz & Regine Blazevic
Tacheles Onlineredaktion