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Neue Sozialleistung Alg II als SGB II – eine Kurzkritik

Heimstatt Esslingen e.V., F. Claus, Sirnauerstr. 7, 73728 Esslingen


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Ab dem 1.7.2004 soll die bisherige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen gelegt werden. Als neue „Grundsicherung” für bedürftige Erwerbsfähige zwischen 15 und 65 Jahren entsteht ein Arbeitslosengeld II, kurz Alg II mit Kostenzuständigkeit der JobCenter beim Arbeitsamt. Ca. 80% der bisherigen Sozialhilfeempfänger werden dieser neuen Sozialleistung vermutlich zugeordnet sein, die bisherige Sozialhilfe (HLU) wird nur noch untergeordnete Bedeutung haben oder sogar ganz abgeschafft werden.
AlgII soll zur zukünftigen Existenzsicherung von ca. 4,3 Mio. Menschen werden. Jeweils ca. die Hälfte entfällt auf ehemalige Sozialhilfebezieher und Bezieher der weg gefallenen Arbeitslosenhilfe. Von letzteren fallen vorab ca. 1 Million Menschen völlig aus dem Leistungsbezug. Die mit dem SGB II dargestellte neue Grundsicherung für Arbeitslose Alg II kollidiert in wesentlichen Teilen mit dem Sozialstaatsprinzip. Das neue System, das nicht einmal im Regelfall vor Armut schützt, schließt weitere Ansprüche an das unterste Netz der Sozialhilfe aus. Es begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie auch von Uwe Berlit, Richter am BVerwG in 'info also, Heft 5/03' ausgeführt werden. Insbesondere eine weitgehende Pauschalierung mit einer undifferenzierten und unbestimmten Bemessung unzulänglicher Pauschalensätze, die auch Bedarfe pauschaliert, die nicht sinnvoll pauschaliert werden können, führt zu regelmäßiger Unterdeckung. Grundsätzlich bedenklich ist auch ein neues Gesetz mit alten, unzulänglichen Regelsätzen - neuer Wein in alten Schläuchen.
Angeboten wird eine „Existenzsicherung” Alg II, die
  • sich nicht mehr am menschenwürdigen Leben ausrichtet
  • die wesentlichen Prinzipien der Bedarfsdeckung, der Einzelfallgerechtigkeit und der unmittelbaren Bedarfsdeckung beseitigt
  • den Hilfeempfängern kein angemessenes Wunsch- und Wahlrecht mehr einräumt
  • das Sozialhilfeniveau, am stärksten bei Kindern, unterläuft
  • weitergehende Sozialhilfeleistungen weitgehendst ausschließt
  • das Verbot der Familienhaftung (der bei Sanktionen und fehlendem Leistungsanspruch des „Ernährers” schutzlosen Angehörigen) unterläuft
  • den direkten Leistungsanspruch von Familienangehörigen beseitigt und diese lediglich an den Anspruch des leistungsberechtigten Erwerbsfähigen anhängt
  • die Beratungspflicht gegenüber Familienangehörigen wesentlich reduziert
  • keine privaten Versicherungsbeiträge wie Haftpflicht, Hausrat... mehr anerkennt
  • Mietrückstände nur bei konkreter Aussicht auf eine Beschäftigung und nur als Darlehen übernimmt
  • die Zumutbarkeitsgrenzen in Richtung Arbeit ohne Lohn zu ungeregelten Vertragsbedingungen beseitigt und mit dem verfassungsrechtlichen Verbot der Zwangsarbeit kollidiert (s. hierzu auch Berlit)
  • solche nicht entlohnte Arbeit ohne Zeit- und Zielvorgaben festsetzt
  • bisherige Grundsätze gemeinnütziger Arbeit (Eignung, Neigung, Hilfecharakter, geregeltes und entlohntes Arbeitsverhältnis, Vertragsgestaltung, Verhältnismäßigkeit) auflöst
  • bei abgebrochenen Bildungsmaßnahmen eine Schadensersatzpflicht festlegt
  • Regelleistungen ohne die seit 10 Jahren zurück gestellte Neubemessung der Regelsätze auf 297 € mit dauerhafter Deckelung durch die Rentenentwicklung festschreibt und hierbei keine Abweichungen bei Besonderheiten d. Einzelfalls mehr zu lässt. Keine automatische Koppelung an Soz.Hilfe-Regelsatz (Alg II jhrl. durch BMWA, SH-RS durch Länder fest zu legen).
  • den erhöhten Aufwand von Arbeitssuchenden nicht anerkennt
  • für nicht erwerbsfähige Angehörige (i.d.R. Kinder) ein nachrangiges Sozialgeld gewährt; bis zu 14 Jahren 60% d. R-Lstg., ab 15 J. 80% d. R.-Lstg. und die Bedarfe von Kindern, auch mit der Pauschalierung, weitgehend unter Sozialhilfeniveau drückt
  • Mehrbedarfe, analog neuem SGB XII (Sozialhilfe neu), aber ohne Anerkennung abweichender Bedarfe, festlegt
  • Kosten der Unterkunft und Heizung oberhalb der Angemessenheitsgrenzen „in der Regel längstens für 6 Monate” schützt
  • eine tückische Pauschalierung auch der Unterkunfts- und Heizkosten vorbereitet und hierzu Rechtsverordnungen einfordert
  • Wohnungsbeschaffungskosten, Kautionen u. Umzugskosten auf Kann-Leistungen reduziert
  • einmalige Leistungen unzulänglich und generell mit 16% pauschaliert, kein Härtefälle anerkennt und bei höheren Bedarfen mit Darlehen finanziert, die mit 50% der Monatspauschale zurückgefordert werden (Bedarfsdeckung auf Pump !)
  • den harten Übergang von AlgI auf AlgII mit degressiven Zuschlägen abfedert
  • Freibeträge bei Erwerbstätigkeit vorsieht m. max. 155 Euro b. Alleinstehenden (45% RL), 173 Euro bei 2-Pers.-HH (50% RL), 207 Euro bei 3-Pers.-HH (60% RL)...., die jedoch erst bei höheren Nebeneinkommen voll zur Wirkung kommen. Ansonsten kommt es zu einer Verschlechterung der bisherigen SGBIII-Regelung.
  • einen besonderen Kindergeldzuschlag von 140 Euro bei einkommensschwachen Familien vorsieht, die sonst in AlgII-Ansprüche rutschen würden
  • ein Einstiegsgeld bei Arbeitsaufnahme für 6-24 Monate vorsieht, über das jedoch alleine der Fallmanager entscheidet
  • Kürzungen bei Weigerungen (auch bei Prämienarbeit und unzureichenden Eigenbemühungen) jeweils in 30%-Schritten bei gleichzeitigem Wegfall der Übergangszuschläge starr und unabhängig von Verhaltensänderungen für jeweils 3 Monate festlegt
  • bei Jugendlichen (15-25 J.) und Kürzungstatbeständen den kompletten AlgII-Anspruch ohne Ermessensspielraum sofort f. 3 Monate versagen
  • keine aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Klagen mehr kennt (jeder Strafzettel räumt dies ein)
  • Schutz- und Mitwirkungsrechte von Hilfeempfänger weitgehend aushebelt und sie sofort vollziehbaren Eingliederungsvereinbarungen mit Kontrahierungszwang und Selbstunterwerfung zwingt, die im Zivilrecht sittenwidrig wären (s. hierzu auch Berlit)
  • Rechtsansprüche für besondere Personenkreise wie z.B. Wohnungslose, Angehörige von Häftlingen, Mitwirkungsverweigerern usw. weitgehend offen lässt.
  • eine Zusammenarbeit mit freien Trägern der Wohlfahrtspflege, aber keine leistungsgerechte Vergütung nach § 93 BSHG mehr vorsieht (Ausschreibung nach VOL)

Festzustellen ist, dass mit dem SGB II nicht nur die bisherige Arbeitslosenhilfe, sondern auch die bisherige Sozialhilfe für die überwältigende Mehrheit der bisherigen Bezieher abgeschafft wird:
Die Grundsätze der Menschenwürde und der unmittelbaren Bedarfsdeckung im Einzelfall, die Prinzipien der Hilfe zur Arbeit, der einzelfallbezogenen Kürzungssystematik als Hilfenorm, das Verbot der Familienhaftung und wesentliche Mitwirkungs- und Schutzrechte der Hilfeempfänger wird es in dieser „Existenzsicherung” nicht mehr geben.
Übrig bleibt eine neue „Grundsicherung” für Arbeitslose, die nicht einmal mehr im Regelfall vor Armut schützt, entgegen allen Versprechungen sogar noch unter Sozialhilfeniveau liegt und dann generell Ansprüche an das letzte Netz der Sozialhilfe (der echten und bewährten Existenzsicherung) verwehrt. Rechte der Hilfeempfänger werden auf Sklavenrechte reduziert - das Recht, Arbeit mit oder ohne Lohn annehmen zu dürfen. Man sehe es mir nach: hier entsteht der Eindruck, dass das „Lumpenproletariat” für alles gefügig gemacht werden soll. Das Gesetz wird aus dem Vermittlungsausschuss vermutlich als „Agenda 2010 XXL” zurück kehren. Es entsteht neue Armut unter Verkennung der Tatsache, dass nichts so teuer wie Armut ist.
11.11.03 Frieder Claus

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