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SG Schleswig 9.März: Kinder Regelleistungen im Rahmen des Umgangsrecht sind notwendiger Bedarf

Ausfertigung
Sozialgericht Schleswig

Az: S2 AS 52/05 ER

Beschluss
In dem Rechtsstreit

Antragstellerin -

gegen

Arbeitsgemeinschaft Kiel
Vertr.d:d.GF H.Stöcken, steliv. GF H.Stremlau,
Adolf-Westphal-Straße 2, 24143 Kiel,


- Antragsgegnerin-


hat die 2.Kammer des Sozialgerichts Schleswig am 09.März 2005 durch ihren Vorsitzenden Direktor des Sozialgerichts Dr. Neumann ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,
im Rahmen des Umgangsrechts die Fahrkosten der Tochter der Antragstellerin am 23. März 2005 von Lauenburg nach Kiel und am 27. März 2005 von Kiel nach Lauenburg sowie den Aufenthalt in Kiel für fünf Tage ( Tagessatz á 7,00 Euro ) zu finanzieren.
2. Die Antragsgegnerin wird weiter verpflichtet , über die bisher anerkannten Mietkosten in Höhe von 326,71 Euro weitere 43,29 € monatlich bis einschließlich Juni 2005 zu gewähren.
3. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen.
4. Die Antragsgegnerin trägt zwei Drittel der Kosten der Antragstellerin.

Gründe

I.

Mit ihrem am 18. Februar 2005 per Telefax beim Sozialgericht Schleswig eingegangenen Antrags, auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Antragsgegnerin:

1. Einen höheren Grundbedarf als Regelleistung für die Ausübung des Umgangsrechts mit ihrer XXX Tochter im Rahmen des Arbeitslosengeldes II.
2. Die Berücksichtigung der Unterkunftskosten in voller Höhe.
3. Den Mehrbedarf für Krankheitsbedingte kostenaufwendige Ernährung.

Die 42jährige Antragstellerin ist geschieden. Ihre 14jährige Tochter ist im letzten Jahr aus der gemeinsamen Wohnung, deren Kosten in Höhe von 374,78 Euro wie aus der Lebensunterhalt bis Ende letzten Jahres durch Sozialhilfeleistung finanziert wurde, zum Vater nach Lauenburg gezogen. Sie besucht die Antragstellerin etwa alle zwei bis drei Wochen in Kiel. Diese Kosten wurden bisher von der Sozialhilfe übernommen. Mit Bescheid vom 03 März 2005 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für die Ausübung des Umgangsrechts ( Antrag vom 27 Januar 2005 ) ab, da diese Sonderleistung durch die gewährte Regelleistung des Arbeitslosengeldes II in Höhe von 345,00 Euro ( Bescheid vom 30 November 2004 ) abgedeckt werde.

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung macht die Antragstellerin geltend, dass 2004 das Sozialamt die Besuchkosten von XXX -- als einmalige Beihilfe gewährt hätte. Sie beantrage über Ostern wiederum die Übernahme der Besuchskosten ( Antrag vom 03. März 2005 ). Ihr stände auch die Übernahme der tatsächlichen Mietkosten in Höhe von 418,07 Euro statt der nur 374,78 Euro zu. Weiterhin sei ihr der bis Ende 2004 vom Sozialamt gewährt monatliche Mehrbedarf in Höhe von 18,00 Euro für die Kosten aufwendiger Ernährung auf Grund ihrer MCS-Erkrankung weiter zu gewähren.

Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich

1. einen höheren Grundbedarf als den Regelbedarf für die Ausübung des Umgangsrechts bei Arbeitslosengeld II zu gewähren –Hilfsweise, einmalige Beihilfen zu gewähren,
2. die Unterkunftskosten in voller Höhe bei der Berechnung zu berücksichtigen,
3. den Mehrbedarf für Krankheitsbedingte kostenaufwendige Ernährung zu bewilligen.

Die Antragsgegnerin beantragt in Schrift und Satz,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung, beruft sie sich auf den Inhalt der ablehnenden Bescheide und führt ergänzend aus, dass im Bewilligungsbescheid vom 30. November 2004 Unterkunftskosten in Höhe von 326,71 Euro für die Bruttokaltmiete sowie die vollen Heizkosten, in Höhe von monatlich 48,07 Euro enthalten seien.

Im Übrigen, könnten die tatsächlichen Unterkunftskosten in Höhe von 418,07 Euro nicht übernommen werden, da sie unangemessen seien. Es sei der Antragstellerin zumutbar, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermietung oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken. Der Antragstellerin, sei bereits während des Bezugs von Sozialhilfeleistung, Gelegenheit zur Senkung der Unterkunftskosten gegeben worden. Diese Gelegenheit habe sie nicht genutzt, obwohl sie bereits 1998 genügend Zeit gehabt hätte, einen angemessenen Wohnraum zu finden oder auf andere Weise, die Kosten zu senken.

Die im Rahmen des Umgangsrechts mit XXX entstehenden Kosten könnten nicht mehr übernommen werden, da § 20 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II) eine § 22 Abs. 1 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entsprechende Regelung nicht mehr vorsehe. Eine Öffnung der Regelleistung für die individuelle Bedarfssituation, sei damit weitgehend verhindert. Über einen eventuell zu zahlenden ,,Ernährungsbedingten“ Mehrbedarf, sei noch nicht entschieden worden.

Zur Ergänzung des Sachverhalts verweist die Kammer, auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin sowie auf die eingereichten Schriftsätze, einschließlich Anlagen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist insofern, als die Antragstellerin die Übernahme der ,,Krankheitsbedingten“ Mehrkosten aufgrund ihrer MCS-Erkrankung begehrt. Es fehlt insofern an einen Rechtsschutzbedürfnis, da die Antragsgegnerin laut ihres Schriftsatzes vom 24 Februar 2005 noch nicht entschieden hat, ob und ggf. in welcher Höhe, der Abtragstellerin nach den Richtlinien des SGB II ein Mehrbedarf zusteht.

Der vorliegende Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in einer Vornahmesache (Übernahme von höheren Mietkosten sowie Kostenübernahmen im Rahmen des Umgangsrechts) ist zulässig. Insbesondere ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eröffnet. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann auch schon vor Klagerhebung erfolgen, § 86 b Abs. 3 SGG.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist teilweise begründet.

Nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis, zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung, setzt einen Anordnungsgrund ( die Notwendigkeit der Eilentscheidung) und einen Anordnungsanspruch (der rechtliche Anspruch auf die begehrte Maßnahme) voraus. Sowohl Anordnungsgrund als auch Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen, § 86 b Abs. 2 Satz
4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO). Für die Antragstellerin bedeutet dies, dass die Anforderungen an die materielle Beweislast, die sie hinsichtlich der ihr günstigen endscheidungserheblichen Umstände trägt, insbesondere hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit der vorgetragenen Tatsachen, geringer als in einem Klageverfahren sind. Je mehr im einstweiligen Anordnungsverfahren möglicherweise vollendete Tatsachen geschaffen werden, desto größer muss die Wahrscheinlichkeit des Anspruchs auf die begehrte Leistung sein.
Soweit im Eilverfahren zugesprochene Mittel in der Regel verbraucht werden, sind sie bei einer gegenteiligen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nur schwer seitens der Behörde wieder auszugleichen und im Ergebnis mit Erfolg zurück zu fordern.
Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinsichtlich der begehrten Kosten für das Umgangsrecht ihrer Tochter XXX
glaubhaft gemacht.

Im Gegensatz zur Auffassung der Antragsgegnerin, hält die erkennende Kammer § 20 SGB II als Rechtsgrundlage für die Übernahme der im Rahmen des Umgangsrechts anfallenden Kosten, für geeignet. Zwar umfasst die Übernahme nach § 20 Abs. 1 SGB II die Sicherung des Lebensunterhalts, insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausarzt, die Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfangs auch den Umgang mit den leiblichen Kindern, mag dahin stehen. Auf jeden Fall, ist die Aufzählung in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht erschöpfend, wie das Wort ,,insbesondere“ zeigt. Mit der Regelleistung soll der im Normalhaushalt auftretende typische Bedarf abgedeckt werden. Getrennt lebende Familien –
Wie hier die Antragstellerin und ihr geschiedener Ehemann mit der gemeinsamen Tochter – sind zwar keine Seltenheit mehr, machen gleichwohl – glücklicherweise – nicht die Regel aus. Durch das Umgangsrecht mit XXX, besteht für die Antragstellerin ein untypischer Bedarf, der im Sozialhilferecht, als besondere Leistung nach § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG abgedeckt war. Entsprechend, hat die Antragstellerin im letzten Jahr als Sozialhilfeempfängerin, auch die Kosten für die Realisierung des Umgangsrechts gewehrt bekommen. Mit der Schaffung des SGB II ist für die erwerbsfähigen Bedürftigen eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen worden. Der Rückgriff auf die Leistungen der Sozialhilfe ist grundsätzlich durch § 5 SGB II ausgeschlossen. Nach Auffassung der Kammer bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig eine Schlechterstellung der ALG II-Empfänger gegenüber den Sozialhilfeempfängern. Dies wäre schon wegen der höheren Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II, die etwa 16 % über dem Regelsatz der Sozialhilfe liegen soll, nicht gerechtfertigt. Wenn Hilfeempfänger, nach § 73 des zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) in sonstigen Lebenslagen, Leistungen erhalten können, muss dies durch eine grundgesetzkonforme Auslegung der §§ 20 ff SGB II ebenfalls gewährleistet sein. Anderen Falls, wäre das durch Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) garantierte Sozialstaatprinzip, verletzt.

Im vorliegenden Fall kann die Antragstellerin sich auch auf Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen.
Dieser Artikel schützt das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils, ebenso wie die elterliche Sorge des geschiedenen Mannes der Antragstellerin (so Kammerbeschluss des 1. Senates des Bundesverfassungsgerichtes – BVerfG – vom 25. Oktober 1994 – 1 B vR 1197/93 -).
Nach den Darlegungen des BVerfG bedeutet die Übertragung des Sorgerechts von einem Elternteil, nach der Scheidung, dass nur dieser Elternteil die notwendigen Entscheidungen über die Pflege und Erziehung des Kindes zu treffen hat und die entsprechenden Elternfunktionen tatsächlich wahrnimmt. Jedoch soll nach der gesetzlichen Regelung des Umgangsrechts die Bindung des Kindes zu dem anderen Elternteil fortbestehen und entsprechend berücksichtigt werden. Das Umgangsrecht ermöglicht so der geistigen Befindung ihrer Tochter und deren Entwicklung durch Augenschein und gegenseitige Absprache fortlaufend zu überzeugen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihr aufrecht zu erhalten und einer Entfremdung vorzubeugen. Dabei sind auch Seitens der Antragsgegnerin, die zwischen den Eltern getroffenen Besuchsregelungen, zu beachten, solange sie nicht missbräuchlich zur Überwälzung von Kosten auf die Antragsgegnerin ausgenutzt werden. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Ausgehend, von den in der familiengerichtlichen Praxis zu § 1634 Abs. 2 Satz 1 das Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entwickelten Grundsätzen, wonach als Mindeststandart der monatliche Wochenendbesuch des Kindes, beim Umgangsberechtigten als die im Regelfall den Zweck des Umgangsrechtes wahrende Regelung, angesehen wird, ist die Regelung mit den etwa alle 2 bis 3 Wochen stattfindenden Besuches XXX bei der Antragstellerin nicht unangemessen. Berücksichtigt man die Entfernung von Lauenburg nach Kiel, ist die Kostenbelastung für die Antragsgegnerin noch vertretbar. Dies gilt auch hinsichtlich des Mehrbedarfs von 7,00 Euro täglich, den XXX zum Essen und Trinken und Befriedigen der sonstigen lebensnotwendigen Bedürfnisse als 14Jährige mindestens braucht. Da hinsichtlich der Besuch XXX bei der Antragstellerin Anfangs und Ende Februar 2005 kein Eilbedürfnis mehr vorliegt, war die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zumindest zur Übernahme der beantragten Kosten anlässlich des nächsten anstehenden Besuches zu Ostern, zu verpflichten. Für ein etwaiges Hauptverfahren und die Erhebung einer Fortsetzungsfeststellungsklage, sei schon hier angedeutet, dass die Kammer die Antragsgegnerin auch zur Übernahme der anlässlich, der bei den beiden bereits stattgefundenen Besuchen im Jahre 2005 angefallenen Kosten für verpflichtet hält. Die Gesetze des SGB II sind grundrechtskonform so auszulegen und zu interpretieren, dass die Finanzierung der notwendigen Umgangsrechtrwahrnehmung sichergestellt wird. Es ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber einen Rückfall unter den Standard der bisherigen Sozialhilfe, mit dem SGB II beabsichtigte.

Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung war insoweit stattzugeben.

Der Antrag auf Erlass einstweiligen Anordnung ist auch insoweit begründet, als die Antragsgegnerin bis einschließlich Juni 2005 die tatsächlichen Unterkunftskosten in Höhe von 418,07 Euro zu tragen hat. Rechtsgrundlage dafür ist § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Die Antragsgegnerin hat die tatsächlichen Aufwendungen, für die Unterkunft, auch soweit sie den angemessen Bedarf übersteigen, solange zu berücksichtigen, wie es der Antragstellerin nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermietung oder auf andere Weise, die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für 6 Monate.
Aus den herbei gezogenen Verwaltungsunterlagen ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin eine kostengünstigere und zugleich angemessene und zumutbare Wohnung nachgewiesen hat. Entgegen ihrer Auffassung ist die Antragstellerin nicht bereits 1998 oder bereits seit dem Zeitpunkt der Scheidung 1996 verpflichtet, sich eine kostengünstigere Unterkunft zu suchen. Vielmehr wohnte ihre Tochter XXX bis zum letzten Jahr noch bei ihr, so dass ein größerer Wohnungsbedarf bestand. Wenn die Antragstellerin im Jahre 2004 nach dem Auszug ihrer Tochter aufgefordert wurde, sich eine günstigere Unterkunft zu suchen, läuft nach Inkrafttreten des § 22 Abs. 1 SGB II ab dem 01. Januar 2005 eine Frist von maximal 6 Monaten, in der die Antragsgegnerin die tatsächlichen Unterkunftskosten zu berücksichtigen hat.
Nach Angaben der Antragstellerin hat sie bereits ihre Wohnung gekündigt und damit die erforderlichen Schritte zur Senkung der Unterkunftskosten eingeleitet. Die Kammer wertet ihr Verhalten hinsichtlich der ihr obliegenden Mitwirkungspflichten als ausreichend. Ein sofortiger Auszug und Umzug ist der Antragstellerin mit Inkrafttreten des SGB II nicht erzwingbar aufzuerlegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das anteilige Obsiegen der Antragstellerin. Diese braucht keine Gerichtskosten zu tragen; das sozialgerichtliche Verfahren ist für sie kostenfrei, § 183 SGG.

Rechtmittelbelehrung.
Gegen diese Entscheidung ist die Beschwerde gemäß § 172, 173 SGG an das Schleswig.Holsteinische
Landessozialgericht gegeben. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses beim Sozialgericht Schleswig, Brockdorff-Rantzau-Straße 13, 24837 Schleswig, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Dr. Neumann
Direktor des Sozialgerichts

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