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Verfassungsgericht zu Hartz IV: An der Grenze zum Verfassungsbruch

Die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze ist „nicht zu beanstanden“ und mit dem Grundgesetz „derzeit noch vereinbar“. Aber auch nur eben noch gerade so. Denn in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Hartz-IV-Regelsätzen vom 23. Juli 2014 (BVerfG, 1 BvL 10/12) steht folgende Aussage: So wie die Regelsätze festgelegt werden, „kommt der Gesetzgeber jedoch an die Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist.“ (Absatz 121) Das Verfassungsgericht benotet die Ermittlung der Regelsätze also nur mit „Vier minus“. Daher verbindet es die Feststellung, die Regelsätze seien noch verfassungsgemäß, auch mit einer ganzen Reihe von Prüfaufträgen und Vorgaben für den Gesetzgeber.





In diesem Artikel informieren wir über die wichtigsten Aussagen des BVerfG sowie deren Folgen für die Beratungspraxis und kommentieren den Beschluss.





Konkrete Vorgaben an den Gesetzgeber:







Mobilität



„Der Gesetzgeber muss sicherstellen, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf tatsächlich gedeckt werden kann.“ (Absatz 145) So die Vorgabe der Verfassungsrichter. Und weiter: „ (…) die ohne Kraftfahrzeug zwangsläufig steigenden Aufwendungen der Hilfebedürftigen für den öffentlichen Personennahverkehr [sind] zu berücksichtigen.“[1]





 



Preisentwicklung und Strom



Im Hinblick auf die Preisentwicklung gibt das BVerfG vor, dass der Gesetzgeber fortlaufend prüfen muss, ob das Existenzminimum noch gedeckt ist: „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren.“ (Absatz 144) Ausdrücklich werden die Strompreise angesprochen: „So muss die Entwicklung der Preise für Haushaltsstrom berücksichtigt werden.“ (Absatz 144)[2]





 



„Weiße Ware“ und Brillen



Das BVerfG sieht „die Gefahr einer Unterdeckung (…) hinsichtlich langlebigen Konsumgütern, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden (…)“ (Absatz 120). Ausdrücklich genannt werden Anschaffungskosten für „Weiße Ware“ (Kühlschrank, Waschmaschine usw.) und „Gesundheitskosten wie für Sehhilfen“.





Das BVerfG fordert (zunächst) die Sozialgerichte auf, zu prüfen, ob Leistungen schon heute bei einer großzügigen Auslegung der bestehenden Gesetzesnormen zuerkannt werden können: „Fehlt es an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II [= Abweichende Erbringung von Leistungen, Anmerkung des Autors] über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige (…) Leistungen verfassungskonform auszulegen.“





Ist eine solche Auslegung nicht möglich, dann sieht das BVerfG den Gesetzgeber in der Pflicht: „ (…) muss der Gesetzgeber einen Anspruch auf einen Zuschuss neben dem Regelbedarf schaffen“, also zusätzliche Einmalbeihilfen einführen (Absatz 116). (Zu dieser eigenwilligen und problematischen Passage siehe auch die Bewertung im Kommentar).





 



Familienhaushalte



Der Gesetzgeber muss überprüfen, ob die gemeinsam anfallenden Fixkosten in größeren Haushalten mit Kindern tatsächlich gedeckt sind. Die Verfassungsrichter sehen die Gefahr einer Unterdeckung, da die Regelsätze für Kinder und Jugendliche aus den Ausgaben von Haushalten mit einem Kind ermittelt wurden, die Regelsätze der Eltern aber aus den Ausgaben von Ein-Personen-Haushalten – also auf Basis nicht zusammenpassender Daten. (Absatz 110)





 



Abzüge bei Jugendlichen



Dem BVerfG erscheinen die Kürzungen für alkoholische Getränke und Tabak bei Jugendlichen als zu hoch angesetzt. Es gebe Hinweise, dass der Tabak und Alkoholkonsum zurückgehe, sodass Jugendliche heute tatsächlich weniger Alkohol und Tabak konsumierten als es die Kürzung unterstellt. Dem soll Rechnung getragen werden. (Rz. 129)





 



Wann wirksam?



Die genannten Vorgaben muss der Gesetzgeber bei der nächsten Neuermittlung der Regelsätze auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2013 berücksichtigen. Die EVS-Daten werden voraussichtlich Ende 2015 ausgewertet sein. Die Vorgabe, Preissprünge – insbesondere beim Strom – zu berücksichtigen, greift ab sofort: „Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.“ (Rz. 144)





Da „Fortschreibung“ die jährliche Anpassung meint (siehe auch das Einlegeblatt dieses A-Infos) und nicht die rund alle fünf Jahre stattfindende Neuermittlung der Regelsätze, muss der Gesetzgeber unter Umständen sogar innerhalb der einjährigen Geltungsdauer der Regelsätze nachbessern.





 



Anspruch auf Fahrtkosten



Neben den Vorgaben beinhaltet der Beschluss des BVerfG auch einen kleinen, zusätzlichen Rechtsanspruch, der sofort wirksam wird: „Bildungs- und Teilhabeangebote müssen (…) ohne weitere Kosten erreichbar sein“, so die Richter (Absatz 132). Fallen zusätzliche Fahrtkosten an, dann besteht ein Rechtsanspruch auf Erstattung. Dazu soll die bestehende Kann-Regelung, wonach auch zusätzlich zu den 10-Euro-Gutscheinen „weitere Aufwendungen“ übernommen werden können (§ 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II), verfassungskonform so ausgelegt werden, dass auch Fahrtkosten darunter fallen und dass bezogen auf die Fahrtkosten aus der Kann-Leistung eine Muss-Leistung wird. (Absätze 132 und 148).





 



Folgen für die Beratungspraxis



Natürlich sollten Ratsuchende aktiv auf den neuen Rechtsanspruch auf Fahrkostenerstattung bei Teilhabeangeboten hingewiesen werden und ermutigt werden, Anträge zustellen. Ob der neue Anspruch aber einen Vorteil bringt, hängt davon ab, wie vor Ort die Schülerbeförderung geregelt ist. Sollte die räumliche und zeitliche Geltung einer bereits gewährten Schülerfahrkarte so sein, dass auch Angebote der sozialen Teilhabe erreichbar sind, dann entstehen ja keine zusätzlichen Kosten und somit auch kein Anspruch auf Erstattung.





Zudem können Ratsuchende ermutigt werden, mit Verweis auf den Beschluss des Verfassungsgericht Einmalbeihilfen für „weiße Ware“ und Brillen zu beantragen und auch einzuklagen. Dabei sollte aber betont werden, dass der Ausgang der Verfahren offen ist. Denn bedauerlicherweise hat das Verfassungsgericht ja letztlich die Frage offen gelassen, ob solche Ansprüche schon heute aufgrund einer gebotenen großzügigen, verfassungskonformen Auslegung – insbesondere des § 24 SGB II (Abweichende Erbringung von Leistungen) – bestehen oder ob der Gesetzgeber hier zusätzliche Leistungsansprüche einführen muss.







Kommentar



Ist der Beschluss des Verfassungsgerichts (BVerfG) nun eine Niederlage auf ganzer Linie, weil die Regelsätze für verfassungskonform erklärt wurden? Nein! Die Vorgaben des BVerfG sind hilfreich, da sie alle, wenn sie ernsthaft beachtet werden, zu einer Erhöhung der Regelsätze führen. Allerdings mit der Einschränkung, dass viele Vorgaben erst ab 2016 wirksam werden. Die Entscheidung ist auch nicht enttäuschend, da nichts für ein besseres Ergebnis sprach. Es bleibt dabei: Das Durchsetzen deutlich erhöhter Regelsätze nimmt uns das BVerfG nicht ab. Substanzielle Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut sind nur im Wege politischer Auseinandersetzungen möglich.



Nicht nachvollziehbar, ärgerlich und nur schwer erträglich ist die Passage im BVerfG-Beschluss zu Waschmaschinen, Kühlschränken und Brillen. Zwar sieht das BVerfG das Risiko, dass existenzrelevante Bedarfe nicht gedeckt sind. Es spielt jedoch den Ball zurück an die Sozialgerichte, die prüfen sollen, ob Leistungen im Wege einer großzügigen Auslegung zuerkannt werden können. Ob dies möglich ist, lässt das BVerfG offen. Dies ist aus mehreren Gründen kritikwürdig. Zunächst verbleiben alle Leistungsberechtigten, die Ablehnungsbescheide der Jobcenter auf beantragte Einmalbeihilfen hinnehmen und nicht den langen Atem für eine Klage haben, in der Gefahr, dass ihre Bedarfe eben nicht gedeckt sind. Und wer, wenn nicht das BVerfG steht in der Pflicht festzustellen, ob zusätzliche Leistungen im Wege der Auslegung möglich sind? Und schließlich wird der Gesetzgeber erst einmal aus der Verantwortung entlassen, da er ja nur tätig werden muss, wenn sich der Weg der Auslegung – irgendwann mal – als nicht gangbar erweis








[1] Hintergrund dieser Vorgabe ist, dass die Ermittlung der Mobilitätskosten auf „Haushalten ohne Ausgaben für Kraftstoffe“ basiert – also Haushalte, die kein Auto haben und sich auch nie ein Auto ausleihen. Da diese Haushalte auch relativ geringe Ausgaben für den ÖPNV haben, ist zu vermuten, dass diese Haushalte oftmals in innerstädtischen Bereichen leben und viele Wege auch zu Fuß oder per Fahrrad zurücklegen können. Dieses Mobilitätsverhalten kann aber nicht als Basis für alle und erst recht nicht für den ländlichen Raum dienen.



 



[2] An anderer Stelle heißt es bezogen auf die Stromkosten: „Angesichts außergewöhnlicher Preissteigerungen bei einer derart gewichtigen Ausgabeposition ist der Gesetzgeber allerdings verpflichtet, nicht nur den Index für die Fortschreibung der Regelbedarfe (…), sondern auch die grundlegenden Vorgaben für die Ermittlung des Bedarfs hinsichtlich des Haushaltsstroms zu überprüfen und, falls erforderlich, anzupassen.“ (Rz 111) Zudem muss der Gesetzgeber ein weiteres Defizit bezüglich der Stromkosten anlässlich der nächsten Neuermittlung der Regelsätze nach den Daten EVS 2013 beheben: Denn 7,4 Prozent der Haushalte aus der verwendeten Vergleichgruppe zur Ermittlung des Strombedarfs hatten gar keine Ausgaben für Strom. Dies drückt die Durchschnittsbildung unzulässigerweise. (Absatz 112)



Den Artikel konnten wir mit Dank von den Kollegen von www.erwerbslos.de/ KOS aus derenm A-Info 169 übernehmen.  





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