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Zur BA - Arbeitshilfe: „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“

vor wenigen Tagen, Anfang Februar 2021, hat die Bundesagentur für Arbeit die (nach meiner Kenntnis) vierte Fassung ihrer Arbeitshilfe „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ (früherer Titel: „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“)  herausgegeben. Sie ist in weiten Teilen wortgleich mit der Vorgängerversion aus Sommer 2020. Die Arbeitshilfe trägt weiterhin den Zusatz „Nur für den Dienstgebrauch“ und ist durch die BA nicht veröffentlicht worden.

Ziel der Arbeitshilfe ist laut eigenen Angaben die Erkennung von vermeintlichem „Missbrauch von Sozialleistungen“ aufgrund einer „Vortäuschung des Arbeitnehmerstatus“ durch Unionsbürger*innen. In diesen Fällen sollen die Jobcenter besonders streng prüfen und im Zweifelsfall die Leistungen ablehnen. Von den Vorgängerversionen unterscheidet sich die neue Fassung an wenigen Stellen durch eine etwas entschärfte Rhetorik und ein paar zurückhaltendere Formulierungen. So ist an einer Stelle der Begriff „Kontrolle“ jeweils durch die Begriffe „Begleitung“ oder „Besuche“ ersetzt worden. Es findet sich zudem an mehreren Stellen nun der Hinweis, dass Pflichtverletzungen durch den Arbeitgeber nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer*in ausgelegt werden dürften – zugleich werden sie aber weiterhin als Indizien für ein „vorgetäuschtes“ Arbeitsverhältnis aufgeführt.

Die Wirkung der Arbeitshilfe bleibt hingegen dieselbe wie die ihrer Vorgängerversionen: Entgegen der Überschrift befasst sich die Arbeitshilfe vorrangig nicht etwa mit dem Thema „organisierte Kriminalität“, sondern dient in erster Linie dazu, großen Gruppen von Unionsbürger*innen in prekären, ungeschützten Arbeitsverhältnissen die aufstockenden SGB-II-Leistungen zu verweigern. Die Arbeitshilfe führt zu gezielter Stigmatisierungen und Kriminalisierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, der ethnischen Zugehörigkeit oder schlicht aufgrund eines prekären Beschäftigungsverhältnissen: Sie schafft und fördert in ihrer Wirkung (wenn auch nicht in ihrer Intention) somit eine Struktur von multidimensionaler, intersektionaler Diskriminierung.

  • Sie wirkt rassistisch, weil nur Personen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit, ausdrücklich Unionsbürger*innen, davon betroffen sind. In früheren Fassungen der Arbeitshilfe waren explizit bestimmte Staatsangehörigkeiten und ethnische Gruppen als „verdächtig“ aufgelistet: „Hier sind insbesondere rumänische und bulgarische Staatsangehörige zu nennen. Häufig gehören diese in ihrem Heimatland türkischsprachigen Minderheiten an. In Einzelfällen sind auch Italiener, Griechen, Polen und aus Marokko stammende Spanier bekannt geworden.“ Seit Sommer 2020 hat die BA diese konkrete Nennung gestrichen. Die Wirkung der aktuellen Arbeitshilfe bleibt indes erhalten, was durch den ebenso diffusen wie rassistisch konnotierten Begriff der „kriminellen Banden“ zusätzlich verstärkt wird.

  • Sie wirkt klassizistisch, weil insbesondere prekär Beschäftigte mit nicht-existenzsicherndem Einkommen in Arbeitsmarktsektoren mit einem besonders hohen Maß an Ausbeutung betroffen sind. Die BA-Arbeitshilfe manifestiert auf verwaltungstechnischem Wege die gesellschaftliche Verachtung von Menschen in Armut und prekären Beschäftigungsverhältnissen und stellt sie faktisch unter den Generalverdacht der Kriminalität. Prekär beschäftigte Unionsbürger*innen dürfen zwar in den Schlachthöfen Schweine zerlegen, Pakete ausliefern, Gebäude reinigen, Spargel stechen, auf dem Bau schuften. Wenn der nicht-existenzsichernde Lohn vom Jobcenter aufgestockt werden muss, soll dies aber so schwierig wie möglich gemacht werden.

  • Und sie wirkt sexistisch, weil Frauen überdurchschnittlich in prekären Beschäftigungsverhältnissen, in Minijobs und ungeschützten Arbeitsmarktbereichen (private Pflege, Reinigungsgewerbe) arbeiten (müssen) oder aufgrund von Care-Arbeit nur begrenzt eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Viele Migrationsberatungsstellen wissen von dramatischen Situationen zu berichten, in denen alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern vor dem gewalttätigen Partner in Frauenhäuser fliehen und monatelang nur aufgrund von privaten Spenden überleben können. Viele kennen Klient*innen, die während der Schwangerschaft gekündigt werden und anschließend nicht wissen, wie sie das Essen für ihr Neugeborenes bezahlen sollen, weil das Jobcenter die Leistungen verweigert.


Die Folgen der Arbeitshilfe sind in der Praxis zu beobachten: Eine besonders restriktive „Sonderbehandlung“ von Unionsbürger*innen im Jobcenter, in vielen Fällen die Leistungsverweigerung trotz Rechtsanspruchs – einhergehend mit einer völligen Verkennung der brutalen Realität im prekären Arbeitsmarktsektor. Die Aussage einer Mitarbeiterin eines Jobcenters gegenüber einer Beratungsstelle anlässlich eines SGB-II-Antrags bringt diese Wirkung – wenn auch ungewollt – auf den Punkt: „Für einen Neuantrag brauchen wir wegen Corona momentan bestimmte Formulare nicht. Oder handelt es sich bei dem Kunden etwa um einen EU-Bürger? Dann brauchen wir die doch!“

Die in der Arbeitshilfe genannten „Erkennungsmerkmale“ sind überwiegend ungeeignet, einen vermeintlichen „bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch“ zu erkennen – für den im Übrigen offensichtlich keine belastbaren Zahlen vorliegen. Beispielhaft nennt die BA in einer Checkliste: z. B. folgende Kriterien: Das Arbeitsverhältnis wird nach kurzer Zeit gekündigt, In Gesprächen beim Arbeitsvermittler wird oft eine Arbeitszeiterhöhung in Aussicht gestellt; Der Leistungsbezieher hat keinen schriftlichen Arbeitsvertrag; Der Leistungsbezieher hat keinen Nachweis zur Anmeldung bei der Einzugsstelle, Der Arbeitgeber hat seinen Betrieb nicht beim Unfallversicherungsträger angemeldet; usw. All diese Kriterien sprechen weniger für einen „bandenmäßigen Leistungsmissbrauch“, als für das Vorliegen einer tatsächlichen, echten – aber prekären, ungeschützten, unsicheren und ausbeuterischen Beschäftigung – oder schlicht für konkrete Versäumnisse des Arbeitgebers. Diese Tatsache sollte gerade der Bundesagentur für Arbeit bewusst sein. In der neuen Fassung Arbeitshilfe wird zwar nun ausdrücklich festgestellt: „Die dargestellten Sachverhalte können vielmehr auch Anhaltspunkte für das Bestehen eines prekären Arbeitsverhältnisses zum Nachteil des Arbeitnehmers sein und begründen damit nicht automatisch das Vorliegen von Leistungsmissbrauch.“ Nur: Was nützt diese Einschränkung, wenn zuvor die genannten Kriterien ausdrücklich als Indizien für „Missbrauch“ aufgeführt werden?

Die Arbeitshilfe deutet die eigentlichen Opfer von faktischer Arbeitsausbeutung, von ungeschützten und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen, zu Täter*innen um. Unionsangehörige Leistungsberechtigte mit geringem Einkommen und werden gleichsam zu Mitgliedern „krimineller Banden“ umdefiniert.

Zahlreiche Kolleg*innen berichten in der Praxis von einer zunehmenden Zahl von Problemen ihrer Klient*innen mit den Jobcentern, die auch und zumindest indirekt mit der Arbeitshilfe in Zusammenhang stehen dürften: Immer wieder wird rechtswidrig die Entgegennahme eines Antrags auf SGB-II-Leistungen oder die Herausgabe der Antragsformulare verweigert. Auch die Verweigerung von Leistungen trotz eindeutigen Vorliegens der rechtlichen Voraussetzungen wird aus den Beratungsstellen immer wieder zurückgemeldet. Häufig wird von den Kolleg*innen gerade gegenüber Unionsbürger*innen eine besonders strenges und zeitaufwändiges Prüfung im Verwaltungsverfahren bemängelt, in denen die Anforderungen an Nachweis oder Glaubhaftmachung der Anspruchsvoraussetzungen weit über das übliche und gesetzlich vorgesehen Maß hinausgehen. Die Folge ist in vielen Fällen, dass Leistungen trotz Vorliegens der Voraussetzungen viel zu spät oder gar nicht durchgesetzt werden können. Dies ist insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen, Familien mit Kindern, Alleinerziehende, kranke Personen oder Menschen mit Behinderungen ein Zustand, der nicht nur sozialpolitisch inakzeptabel ist, sondern auch der Rechtslage und dem Ziel des SGB II widerspricht.

In den Beratungsstellen nehmen die Kolleg*innen zunehmend Verelendung, völlige Mittellosigkeit, sozialrechtliche Schutzlosigkeit, Wohnungslosigkeit, kurz: die vollständige soziale Exklusion einer ganzen Bevölkerungsgruppe, wahr. Die sozialstaatlichen Schutzgarantien scheinen für diese Gruppe außer Kraft gesetzt zu sein, betroffen sind in erster Linie Unionsbürger*innen. Die eigentliche Ursache für diesen unhaltbaren Zustand ist dabei das umfassende System von sozialrechtlichen Leistungsausschlüssen im SGB II und XII (und seit 2019 auch im Kindergeld) für wirtschaftlich nicht verwertbare Unionsbürger*innen. Die Arbeitshilfe der BA perfektioniert dieses Exklusionssystem und gestaltet den sozialen Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe noch effektiver. Das Ziel muss daher neben der Rücknahme der BA-Arbeitshilfe vor allem sein, die ausländerrechtlichen Leistungsausschlüsse für nicht-deutsche Staatsangehörige im SGB II und XII endlich zu streichen.

Die Arbeitshilfe" Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit“ zum Download.


Weitere Links:



Hier gibt es ausführliche Informationen, Einordnungen, Kommentierungen zu den früheren Versionen der BA-Arbeitshilfe:

https://europainbewegung.de/analyse-der-arbeitshilfe/

https://europainbewegung.de/materialien/

https://www.labournet.de/interventionen/asyl/arbeitsmigration/migrationsarbeit/aktionstage-2-5-april-2019-arbeiten-ja-rechte-nein-gegen-ausschluss-und-kriminalisierung-von-eu-buergerinnen-existenzsichernde-leistungen-fuer-alle-die-hier-leben/ darin:

https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2019/04/hermann040419.pdf


Claudius  Voigt / GGUA  &  Harald Thomé / Tacheles  

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