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Zur Entscheidung des BVerfG zu den Regelleistungen und der Härtefallregelung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 9. Februar 2010 sein Urteil zu den Regelleistungen (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) verkündet und dabei festgestellt, dass die SGB II-Regelleistungen von der Höhe her verfassungsgemäß sind, die Methode der Festsetzung allerdings verfassungswidrig ist und es zudem an einer Härtfallklausel mangelt.

Das BVerfG hat dabei angeordnet, dass SGB II-Leistungsbezieher/innen in Härtefällen ab sofort beim SGB II-Träger Leistungen geltend machen können. Diese Härtefallregelung greift bei unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligem und besonderem Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass mit den dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen – einschließlich der Leistungen Dritter – und unter Berücksichtigung der Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist. Diese Härtefallregelung gelte bis zur Schaffung einer eigenen gesetzlichen Grundlage. Diese ist bereits am 23.04.2010 im Bundestag verabschiedet worden.

1. Zu den Überprüfungsanträgen



Der Verein Tacheles hatte mit Blick auf die zu erwartende BVerfG-Entscheidung dazu aufgerufen Überprüfungsanträge zu stellen. Diese Kampagne stellte darauf ab, rückwirkend Ansprüche zu sichern, für den Fall, dass das BVerfG zu der Erkenntnis kommt, die Regelleistungen seien zu niedrig und müssten rückwirkend korrigiert werden.

Das BVerfG hat festgestellt, dass es bei der Bemessung der Regelleistungen nicht nachvollziehbare Kürzungen bis hinzu völligen Ermittlungsausfällen gegeben hat. Dessen ungeachtet hat das höchste Gericht nicht festgestellt, dass die Regelleistungen evident zu niedrig bemessen ist. Aus diesem Grund kämen Ansprüche auf höhere Leistungen weder sofort, geschweige denn rückwirkend in Betracht, da dies eine „unvertretbare fiskalische Wirkung” habe.

Trotzdem hat das Bundessozialgericht (BSG) in einer Entscheidung vom 18. Februar 2010 eine rückwirkende Anwendung der Härtefallregelung nicht ausgeschlossen (B 4 AS 29/09 R). Dazu hat dann das BVerfG mit Urteil vom 24. März 2010 indirekt geantwortet (1 BvR 395/09): Rückwirkend vor dem 09.02.2010, so die Karlsruher Richter, entstünden im Rahmen der Härtefallklausel keine Ansprüche. Dies sei allenfalls auf dem Weg des § 73 SGB XII gegeben.

Die Entscheidungen des BVerfG sind aufgrund von § 31 BVerfGG für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden bindend. Damit sind rückwirkende Ansprüche infolge eines Überprüfungsantrages definitiv ausgeschlossen.

Bei Überprüfungsanträgen, die aufgrund des BVerfG-Verfahrens gestellt wurden, raten wir demnach: Sie sind zurückzunehmen, als erledigt zu erklären oder in den Fällen in denen bereits Widerspruch oder Klage anhängig sind, diese als erledigt zu erklären.

2. Ausnahme vom Verbot der Rückwirkung



Das BSG hat am 18.02.2010 entschieden, dass in offenen Verfahren die Härtefallregelung, die das BVerfG angeordnet hat, auch für Zeiten vor dem 09.02.2010 gelten kann. Im Gegenzug dazu hat das BVerfG in seiner zweiten Entscheidung vom 24.03.2010 wiederum festgestellt, dass eine solche Rückwirkung nicht möglich ist, weil das BVerfG dies in seiner Entscheidung vom 9. Februar definitiv angeordnet habe. Die Härtefallregelung gilt also erst ab dem Entscheidungsdatum.

Demgegenüber schlossen die Karlsruher Richter rückwirkende Ansprüche auf dem Weg des § 73 SGB XII nicht aus. „Ein Anspruch gegen den Sozialhilfeträger nach § 73 SGB XII war offensichtlich nicht Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens, da eine Beiladung des Sozialhilfeträgers unterblieben ist, das Bundessozialgericht dies nicht als Verfahrensfehler beanstandet hat und die Beschwerdeführer insoweit keinen Verfassungsverstoß geltend machen.” (Rz 7)

Damit stellt das BVerfG klar, dass sozialrechtliche Leistungsansprüche in Härtefällen für Zeiten vor der BVerfG-Entscheidung gegebenenfalls nach § 73 SGB XII geltend gemacht werden können, wenn eine („Sozial-”) Behörde Kenntnis von der Notlage hatte (§ 18 Abs. 1 SGB XII). Dies gilt auch, wenn die Information über das Vorliegen eines Härtefalls einem nun unzuständigen Leistungsträger vorlag (§ 16 Abs. 2 SGB I und § 18 Abs. 2 SGB XII). Wenn also ein SGB II-Träger Kenntnis von einer solchen Notlage (Härtefall) hatte, hätte er den zuständigen Sozialhilfeträger sofort informieren müssen. Über diese gesetzlichen Vorgaben kann bis zu vier Jahre rückwirkend ein Anspruch für atypische Bedarfslagen nach § 73 SGB XII beim zuständigen Sozialamt geltend gemacht werden (§ 45 Abs. 1 SGB I).

An dieser Stelle muss jedoch deutlich gemacht werden, dass die Durchsetzung solcher Rechtsansprüche an klare Voraussetzung geknüpft ist:

  1. Betroffene müssen zweifelsfrei nachweisen können, dass in der Vergangenheit ein zuständiger oder nicht zuständiger Sozialleistungsträger Kenntnis von dem Härtefall hatte. (Z.B. durch Antrag mit Eingangsstempel.)
  2. Es muss damit gerechnet werden, den Anspruch erst im Klageverfahren durchzusetzen. Da Sozialämter § 73 SGB XII-Verfahren häufig abblocken, werden sie es vor allem in Bezug auf einen in die Vergangenheit zurückgehenden Anspruch regelmäßig auf eine Klage ankommen lassen.
  3. Um SGB XII – Ansprüche geltend zu machen, gelten andere Rahmenbedingungen bei der Bedürftigkeitsprüfung, so für Unter 60-Jährige nur 1.600 EUR Schonvermögen, kein geschontes Kfz, andere Erwerbstätigenfreibeträge …


Auf der anderen Seite bedeutet die Kenntnis der Notlage bzw. des Härtefalles nicht, dass ein Anspruch bereits mit der genauen Benennung des Bedarfs geltend gemacht wurde. Wurde ein Träger über die Notlage/ den Härtefall und einen möglicherweise daraus resultierenden Anspruch in Kenntnis gesetzt, hat er den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 20 Abs. 1 SGB X).

3. Härtefallregelung



Die Härtefallregelung des BVerfG wird eng auszulegen sein. Sie wird nach unserer Einschätzung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Bedarfslagen umfassen, bei denen die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber z.B. lediglich einen „völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf” attestiert haben (BVerfG v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, Rz 146; vgl. auch Rz 196).

Leistungen im Rahmen der Härtefallregelung werden demnach nur zu erbringen sein, wenn es sich um einen unabweisbaren, laufenden und besonderen Bedarf handelt, der auch nicht durch Umschichtung im Verbrauchsverhalten kompensiert werden kann. Die Bundesregierung hat dies in einer kleinen Anfrage konkretisiert:

„Bedarfe, die in der Regelleistung berücksichtigt sind, können nur in atypischen Situationen als Sonderbedarf übernommen werden, d.h. wenn sie überdurchschnittlich hoch sind oder in einem überdurchschnittlichen Umfang anfallen.” (Drucksache 17/1070)

Das werden von der Systematik her folgende Bedarfsgruppen sein:

a. Laufende erhebliche Kosten bei kranken und behinderten Menschen, z.B.:



  • nicht verschreibungspflichtige Arznei-/Heilmittel (Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit (GA) 08/10 v. 17.02.2010)
  • Putz-/Haushaltshilfe für Rollstuhlfahrer (GA 08/10 v. 17.02.2010)
  • med. notwendige Verbandsstoffe, Salben, Pflegemittel, z.B. bei Neurodermitis (GA 08/10 v. 17.02.2010)
  • Hygieneartikel bei AIDS und sonstigen Bedarfen (GA 08/10 v. 17.02.2010)
  • Warmwasserkosten (auch mit Strom) wegen erhöhtem Hygienebedarf bei Krankheit
  • notwendige medizinische Fußpflege (ist nur bei Diabetes Kassenleistung)
  • erhöhte Mobilitätskosten bei Behinderung (z.B. Taxi)
  • Hörgerätebatterien, Reinigung- und Pflegekosten von Hilfsmitteln
  • Dolmetscherkosten bei Gehörlosen (außerhalb von § 17 Abs. 2 SGB I)
  • im Leistungskatalog der GKV nicht vorgesehene ärztliche oder zahnärztliche Behandlungen kann eine besondere Lebenslage sein (info also 2/2010, S. 61, LSG Bayern v. 16.10.2008 – L 7 B 668/08 AS PKH)


b. Umgangs- und Besuchskosten:



  • Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechtes, wie Fahrt- und Übernachtungskosten (GA 08/10 v. 17.02.2010)
  • Umgangs- und Besuchskosten auch bei Wohnsitz der Kinder im Ausland (LSG NRW v. 06.09.2007 – L 9 AS 80/06 zu § 73 SGB XII)
  • Kosten des Besuches Inhaftierter (LPK – SGB XII, § 73, Rz 6, Hauck/Noftz, SGB II, § 23 Rz 130, info also 2/2010, S. 59/60)
  • Kosten des Besuches bei dauerhaftem Krankenhausaufenthalt von Kindern oder Partnern.


c. Differenzbetrag private- zur gesetzlichen Krankenversicherung:



  • Beträge für private Kranken- und Pflegeversicherungen bei privat Versicherten, die nicht vom SGB II-Träger übernommen werden (SG Chemnitz v. 15.03.2010 – S 3 AS 462/10 ER). (Für den Zusatzbeitrag bei der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es eine eigengesetzliche Grundlage in § 26 Abs. 4 SGB II. Hier kann man sich überwiegend an der GA der BA vom 09.03.2010 orientieren.)


d. Nachhilfeunterricht/Bildungskosten:



  • Nachhilfe bei besonderen Anlass, z.B. bei langfristiger Erkrankung oder Todesfall in der Familie (GA 08/10 v. 17.02.2010)
  • Nachhilfe, wenn ein Kind aufgrund schwieriger sozialer Umstände zusätzliche Hilfe benötigt, um nicht „sitzen zu bleiben” oder in einen anderen Schulzweig abzurutschen
  • Kosten für ein besonderes Schulprojekt, das über das ganze Schuljahr läuft, wenn z.B. regelmäßige eintägige Exkursionen nötig sind
  • Rechtsanwalt Uwe Klerks vertritt in info also 2/2010, dass aufgrund des „völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf den kinderspezifischen Bedarf” (BVerfG, s.o.) die notwendigen Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten zu den existenziellen, über die Härtefallregelung zu deckenden Bedarfe gehören (info also 2/2010 S. 56 ff).


e. Sonstige Fälle:



  • Bei besonderen überdurchschnittlichen Bedarfen z.B. bei Unter- oder Übergrößen an Bekleidung oder hohen Energieverbrauch an Haushaltsenergie aus zwingenden Gründen kann eine Härtfallgrund vorliegen (info also 2/2010 S. 62 ff). (Redaktionelle Anmerkung: aus den Protokollen der Bundestagssitzung vom 23.04.2010 ist ersichtlich, dass die Bundesregierung grade bei Ober- und Untergrößen einen Riegel vorschieben will, näheres wissen wir noch nicht, da die gesetzliche Änderung noch nicht bekannt ist).


Die hier aufgelisteten Bedarfslagen entsprechen dem Rechtsstand 23.04.2010 Eine solche Liste kann nicht abschließend sein. Das Leben ist vielfältig, existenzielle Bedarfssituationen sind es ebenfalls. Daher kann ein unabweisbarer, laufender besonderer und erheblicher Bedarf, der prinzipiell in die dargestellte Systematik passt, im Rahmen der Härtefallregelung beantragt und bei Ablehnung mittels einstweiliger Anordnung vor den Sozialgerichten eingeklagt werden.

Auch die Bundesagentur für Arbeit weist schließlich darauf hin, dass ihre Liste zur Härtefallregelung nicht abschließend ist (GA 08/10 v. 17.02.2010). Außerdem stellt sie zurecht klar, dass bei Entscheidungen über Härtefälle die Literatur und Rechtsprechung zu § 73 und § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII heranzuziehen sind.

4. In der Regelleistung nicht berücksichtigte Bedarfslangen und der Umgang damit



Das BVerfG hat richtig festgestellt, dass es bei kinderspezifischem Bedarf einen „völligen Ermittlungsausfall” gibt (BVerfG s.o.). Hier handelt es sich um die Bereiche Erziehungs-, Schul- und Bildungsbedarf sowie Kinderbekleidung und der Bedarf zur gesellschaftlichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen.

Das BSG hat mit den Urteil vom 23. März 2010 (B 14 AS 81/08 R) klargestellt, dass wachstumsbedingter Bekleidungsbedarf von Kindern und Jugendlichen zur Regelleistung gehöre und deswegen nicht als Härtefall beantragt werden kann. Zu beantworten sind jetzt die Fragen, wie mit Erziehungs-, Schul- und Bildungsbedarf, also beispielsweise eintägigen Klassenfahrten und Ausflügen, höhere Kosten für Anschaffung eines Taschenrechners, von Schulbüchern etc. umzugehen ist.

Generell sollten bezüglich der Deckung solcher Bedarfslagen nicht allzu große Hoffnungen an die Rechtsprechung der Sozialgerichte geknüpft werden. Unsers Erachtens ist es aber nicht auszuschließen, dass einzelne Gerichte entsprechende Bedarf entweder im Rahmen der Härtefallregelung oder als „Nulldarlehen” (Gewährung nach § 23 Abs. 1 SGB II als unabweisbaren Bedarf bei gleichzeitigem Erlass der Forderung nach § 44 SGB II) gewähren. Denkbar wäre außerdem die Gewährung eines Anspruches nach § 73 SGB XII.

5. Fazit



Was die Härtefallregelung angeht, so werden die Sozialgerichte wohl darüber zu entscheiden haben, wie weit diese Regelung in der Praxis auszulegen ist. Bei den bislang in den Regelleistungen nicht berücksichtigten Bedarfslagen (den sogenannten „Ermittlungsausfällen”) kann in gut begründeten Einzelfällen vielleicht der ein oder andere juristische Erfolg erzielt werden. Hier jedoch eine groß angelegte „Klagekampagne” anzustoßen, halten wir für wenig aussichtsreich und zu kräftezehrend.

Die BVerfG-Entscheidung zu den Regelsätzen hat mal wieder vor Augen geführt, dass rechtliche Gegenwehr die notwendigen politischen Kämpfe nicht ersetzen kann. Und gerade hier herrscht bei Erwerbslosen und den ihnen nahestehenden Organisationen ein erheblicher Handlungs- und Nachholbedarf. Deshalb muss noch in diesem Jahr der Neubemessung der Regelleistungen politischer Widerstand aufgebaut und eine breite Debatte darüber angestoßen werden, was der Mensch zum Leben in dieser Gesellschaft braucht. Neben der Kampagne „500 Euro Eckregelsatz” und dem „Bündnis für ein Sanktionsmoratorium” ist bei Erwerbslosenorganisationen bereits eine entsprechende Kampagne in Vorbereitung. Wir werden alsbald darüber berichten.

Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass uns der Gesetzesentwurf zur Härtefallregelung noch nicht vorliegt und aus diesem Grund diese Einschätzung unvollständig ist (Infostand: 23.04.2010). Wir werden dazu aber bei vorliegen der endgültigen Fassung der Härtefallregelung nochmal ein Update geben.

Tacheles-Online-Redaktion
Harald Thomé und Frank Jäger



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