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Zur Gewährung von Arbeitslosengeld II an mittellose Untersuchungsgefangene


Die Bundesagentur für Arbeit betonte in den von Ihr zum SGB II erarbeiteten "Durchführungsanweisungen", ein Inhaftierter würde "alle für seinen Lebensunterhalt erforderlichen Leistungen durch die Justizvollzugsanstalt" erhalten. In entsprechenden Fällen bestünde "insoweit" keine Hilfebedürftigkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 SGB II, V. m. § 9 Abs. 1 SGB II. Auch wenn ein Freiheitsentzug voraussichtlich nicht länger als sechs Monate andauert, könnte ein mittelloser Mensch keine Leistungen nach dem SGB II erhalten. - § 46 StVollzG sieht zwar vor: "Wenn ein Gefangener ohne sein Verschulden kein Arbeitsentgelt und keine Ausbildungshilfe erhält, wird ihm ein angemessenes Taschengeld gewährt, falls er bedürftig ist". Diese Norm ist aber auf Untersuchungsgefangene nicht anwendbar, was das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 31. Januar 1985 (Az.: 2 BvR 1588/94) ausdrücklich feststellte.
Im Zusammenhang mit der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach den heutigen §§ 27 ff. SGB XII prägte sich in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte die Linie heraus, mittellose Personen, denen von der JVA keine Tätigkeit zugewiesen werden kann oder die arbeitsunfähig sind, könnten dem zuständigen Sozialhilfeträger gegenüber einen Anspruch auf Leistungen zur Deckung ihrer persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) realisieren. - Umstritten war lediglich die Bemessung dieses "Taschengeldbedarfs". Das Bundesverwaltungsgericht brachte in seinem richtungweisenden Urteil vom 12. Oktober 1993 (DVBl. 1994, S. 425 ff.) hier bezüglich zum Ausdruck: "Die Bemessung des Barbetrags nach einem Bruchteil des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes kann sich auf § 22 Abs. 1 Satz 2 BSHG (heute: § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XlI) stützen ". Dieses oberste Verwaltungsgericht sprach sich dort für eine abweichende Festlegung regelsatzmäßig relevanter Bedarfe aus und hielt eine Bemessung dieses "Taschengeldes" in einer Höhe von 15 v. H- des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes für "nicht zu beanstanden".
Das OVG Lüneburg erachtete aber in seinem Urteil vom 13. Mai 1992 (Info also 1992, 5. 192 ff.) in entsprechenden Fällen einen Monatsbetrag, der 10
v. H. der vorab erwähnten Referenzgröße entspricht, für "angemessen". - Das Verwaltungsgericht Halle führte allerdings in seinem Urteil vom 27. Juni 1995 (Az.: 1 4 2/94) diesen Aspekt betreffend aus: "Der Kläger erhielt von der JVA Halle in einem wesentlich geringeren Umfang Sachleistungen als dies ausweislich der Gründe der betr. Entscheidung in Niedersachsen der Fall war. (...) Der Kläger verfügt nur über beschränkte Einkaufsmöglichkeiten. Er kann nicht zwischen mehreren Lieferanten auswählen, sondern ist auf den von der JVA ausgewählten Lieferanten mit seinen - gerichtsbekannt - höheren Preisen angewiesen. (...) Es verbleibt ein Bedarf des Klägers in Höhe von 15 Prozent des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes".
In der Zeit nach dem 1. Januar 2005 stellte sich für bedürftige Untersuchungsgefangene die Situation ein, dass sie weder vom zuständigen Sozialhilfeträger Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß den §§ 27 ff. SGB XII noch vom zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II erhielten: Der Träger der Sozialhilfe stellte sich auf den Standpunkt, wer nicht für länger als sechs Monate in Untersuchungshaft wäre, könnte die Gewährung von Leistungen gemäß dem SGB II beantragen. Der zuständige Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende lehnte ab, weil dieser der von der Bundesagentur für Arbeit vorgezeichneten Linie folgte, die JVA würde für särntliche zur Existenzsicherung erforderlichen Leistungen sorgen.
Rechtliche Würdigung
Bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen schreibt § 20 SGB II die Bewilligung einer "Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts". In der in seinem
Absatz 2 näher bezeichneten Höhe - nämlich EUR 345,- in den westlichen Bundesländern einschließlich Berlin - fest. Es handelt sieh hier um eine Monatspauschale, welche z. B. auch den gesamten Ergänzungsbedarf an Oberbekleidung und Einrichtungsgegenständen abdeckt.
Die von der BA für Arbeit zum SGB II abgefassten Durchführungsanordnungen verfügen in ihrer Nr. 20.1, dass dieser Richtsatz "in etwa folgende Bedarfe umfasst: Nahrung, Getränke, Tabakwaren ca. 38 Prozent, Bekleidung, Schuhe ca. 10 Prozent, Wohnung (ohne Mietkosten), Strom ca. 8 Prozent, Möbel, Apparate, Haushaltsgeräte ca. 8 Prozent, Gesundheitspflege ca. 4 Prozent, Verkehr ca. 6 Prozent, Telefon, Fax ca. 6 Prozent, Freizeit, Kultur ca. 11 Prozent, Beherbergungs- und Gaststättenleistungen ca. 3 Prozent sowie sonstige Waren und Dienstleistungen ca. 6 Prozent".
Die JVA Neumünster legte in Ihrer Stellungnahme vom 18. Mai 2005 dar, welche Grundbedürfnisse eine JVA bei Inhaftierten im Einzelnen abdeckt, nämlich "die Unterkunft, fließend kaltes Wasser, Bettwäsche und Gefängniskleidung, Duschgel (10 ml wöchentlich), zwei kalte und eine warme Mahlzeit täglich sowie ärztliche Versorgung durch die/den Anstaltsarzt samt Lazarett". - Die nun folgenden Bedarfe erfordern jeweils den Einsatz eigener Mittel: "Zusätzliche Hygieneartikel, Zwischenmahlzeiten, warme Getränke, Genussmittel wie Kaffee und Tabakwaren, Briefpapier und Porto, Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehempfang ".
Das Sozialgericht Schleswig verpflichtete in Orientierung anhand der oben zitierten Aspekte in seinem Beschluss vom 25. Mai 2005 (Az.: S 3 AS 173/05 ER) den zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende zur Gewährung eines "Taschengeld" für die restliche Dauer der Untersuchungshaft des Antragstellers. - Zur Begründung wurde ausgeführt: "Sofern die Antragsgegnerin (das JobCenter Kiel) die Auffassung vertritt, dem Antragsteller werden in der JVA alle zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlichen Leistungen gewährt, so unterliegt sie einem Irrtum. (…) § 20 SGB II soll mit den näher bezeichneten Leistungen das sog. soziokulturelle Existenzminimum des Einzelnen abdecken, Insofern ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip die Pflicht des Staates zur Fürsorge für Hilfsbedürftige, um die Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins - auch unter den Bedingungen des Justizvollzugs - sicherzustellen. (…) Das soziokulturelle Existenzminimum wird aber gerade durch die Versagung eines angemessenen Taschengeldes für den durch Sachleistungen der JVA nicht gedeckten Bedarf seitens der Antragsgegnerin unterschritten, so dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt für die anzuerkennenden Bedürfnisse des täglichen Lebens zur Seite steht. In Ermangelung einer konkreten Regelung und im Hinblick auf den Umstand, dass aufgrund der Neukonzeption der Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige ab dem 1. 1.2005 mit der Regelleistung gern. § 20 Abs. 2 SGB II auch die früheren einmaligen Leistungen des BSHG pauschal mit abgegolten werden, (…) geht die Kammer (…) zunächst davon aus, dass für bedürftige Untersuchungsgefangene ein durchschnittlicher Barbetrag von 30,- Euro als angemessener Betrag festzusetzen ist."
Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen gab mit Verfügung vom 15. Juni 2005 sämtlichen in diesem Bundesland bestehenden Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie Sozialhilfeträgern in diesem Zusammenhang zur Kenntnis, dass diese Klientel "grundsätzlich Ansprüche auf Taschengeld nach dem SGB II hat, wenn die Voraussetzungen der §§ 7, 8 Abs. 1, 9 SGB II vorliegen und die Unterbringung in Untersuchungshaft nicht länger währt als sechs Monate (§ 7 Abs. 4 SGB II)", sowie sprach sich ebenfalls für eine Gewährung eines "Taschengeld als geminderte Regelleistung" aus.
Umstritten ist an dieser Stelle erneut der Aspekt der Höhe der einer/einem solchermaßen inhaftierten Antragsteller/in zustehenden Geldleistung.
Die Zentrale der BA für Arbeit brachte hier bereits in ihrer am 11. März 2005 der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen gegenüber formulierten Antwort zum Ausdruck: "Befindet sich ein Antragsteller in Untersuchungshaft (Dauer weniger als 6 Monate), so ist ihm die Regelleistung nach § 20 SGB II abzüglich 35 Prozent (bei voller Verpflegung) zu zahlen. Erst wenn der Hilfebedürftige neben kostenloser Unterkunft und Verpflegung weitere Leistungen, wie beispielsweise Kleidung, Taschengeld etc, erhält, die geeignet sind, seinen gesamten Bedarf zu decken, ist Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 1 in vollem Umfang zu verneinen.
Einerseits muss hier kritisch angemerkt werden dass die dort bejahte Herabbemessung keine Begründung erfuhr. Das SGB II sieht - Im Gegensatz zum SGB XII (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) - die Möglichkeit der abweichenden Festlegung von Bedarfen nicht vor.
Zum anderen stellt es eine für die betroffenen Untersuchungsgefangenen ausgesprochen bittere Tatsache dar, dass weder die zuständigen Dienststellen der BA für Arbeit noch zur Entscheidung angerufene Sozialgerichte diese Äußerung bei der Leistungsgewährung heranziehen: Ein unbefriedigender Zustand, der im Interesse dieser mittellosen Klientel unbedingt aufzugreifen ist.
Dr. Manfred Hammel, Diplom
Verwaltungswissenschaftler, Caritasverband für Stuttgart e. V.

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