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"Fördern und Fordern" +++ Wie die Arbeitsämter Gelder durch Sperrzeiten einsparen
Zu finden unter: http://www.wsws.org/de/2003/sep2003/alo-s03.shtml
"Fördern und Fordern"
Wie die Arbeitsämter Gelder durch Sperrzeiten einsparen
Von Werner Albrecht und Benjamin Harder
3. September 2003
"Das wusste ich nicht", sagt Hamaza. Der 19-jährige aus Duisburg hat gerade seine Ausbildung als Zimmermann erfolgreich abgeschlossen, sich arbeitssuchend gemeldet und inzwischen eine zweiwöchige Sperrzeit bei seinem Arbeitslosengeld erhalten: weil er einen Termin nicht wahrnehmen konnte.
So wie Hamaza ergeht es vielen Arbeitslosen in letzter Zeit. Florian Gerster (SPD), Chef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg (BA), künftig "Bundesagentur für Arbeit" benannt, hat seinen Arbeitsamtdirektoren die Vorgabe gegeben, in diesem Jahr rund 2,9 Milliarden Euro beim Arbeitslosengeld einzusparen. Da aber die Unternehmen eher Arbeitsplätze abbauen als schaffen, sind die Einsparungen nicht durch eine verstärkte Vermittlung Arbeitsloser in Arbeit zu erzielen. Auch die von der Hartz-Kommission entwickelten Personal-Service-Agenturen (PSA), subventionierte Leiharbeiterfirmen, scheitern offensichtlich am Arbeitsmarkt: ganze 175 Arbeitslose sind bislang durch eine PSA zu einem festen Job gekommen.
Also muss anders gespart werden. "Das Einsparzauberwort heißt Sperrzeit", schreiben Beschäftigte der Arbeitsämter in einem Protestschreiben. "Den Arbeitslosen droht die Verfolgungsbetreuung."
Die Zahlen aus Nürnberg sind da eindeutig. Während im Monat Juli 280.000 Arbeitslose einen neuen Job fanden, verschwanden 329.000 in die schwammige "sonstige Nichterwerbsarbeit", seit Beginn des Jahres bereits über 2,2 Millionen. Ein großer Teil dieser Abgänge sind Arbeitssuchende, die ohnehin keine Leistungen (mehr) aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Nichtleistungsempfänger unter 25 Jahren werden beispielsweise zur monatlichen Meldekontrolle eingeladen - und zwar "bis zwei Tage vor der monatlichen Statistikzählung"; bei Nichterscheinen wird der Jugendliche aus der Statistik gestrichen. Dies frisiert höchstens die Arbeitslosenstatistik, spart aber nicht direkt Geld ein. Deshalb gilt das Augenmerk der Arbeitsämter denen, die noch Leistungen erhalten. Der Anteil derer, die wegen "fehlender Mitwirkung" Sperrzeiten beim Leistungsbezug erhalten und unter diese Rubrik fallen, wächst.
Im ersten Quartal dieses Jahres sind die verhängten Sperrzeiten um 21,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, die Sperrzeiten wegen angeblicher Ablehnung von Arbeitsangeboten, Trainingsmaßnahmen oder ähnlichem sogar um 65,4 Prozent. Im April und Mai (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) stiegen diese Werte sogar um 147 Prozent gegenüber dem Vorjahr! Allein im April waren über 11.000 Menschen betroffen. Insgesamt rechnet die Bundesanstalt für Arbeit mit mindestens 140.000 Sperrzeiten in diesem Jahr, kündigte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt an.
Es ist davon auszugehen, dass Heinrich Alt mit der ab 1. Juli eingeführten Regelung der sofortigen Arbeitslosmeldung seinem Ziel ein gutes Stück näher kommen wird. Ab 1. Juli hat sich ein Arbeiter, der eine Kündigung erhält, umgehend beim Arbeitsamt zu melden. Erfolgt die Meldung beim Arbeitsamt nicht rechtzeitig, wird das Arbeitslosengeld für jeden Tag der verspäteten Meldung bis zu einer Höchstgrenze von 30 Tagen gekürzt, im Extremfall bis zu 1.500 Euro.
Schon seit langem wurde die Unterstützung gekürzt, wenn der Beschäftigte seinen Job selbst kündigt. Nun hat er fast grundsätzlich mit einer bis zu 12-wöchigen Kürzung zu rechnen. Denn, so das Arbeitsamt: "Sie haben Ihr Beschäftigungsverhältnis auch dann selbst gelöst, wenn Sie einen Aufhebungsvertrag schließen. Denn der Vertrag kann ohne Ihre Zustimmung nicht zustande kommen." Und selbst bei einer Kündigung wird es für den ein oder anderen schwer, seinen Beamten davon zu überzeugen, dass er keine Schuld an seiner Arbeitslosigkeit trägt. "Viele Arbeitgeber sprechen gegenüber langjährigen Beschäftigten ohne deren Einwilligung keine Kündigung aus", informiert das Arbeitsamt. "Gegebenenfalls bedeutet dies,eigene Arbeitsaufgabe ohne wichtigen Grund’."
Dass selbst gesundheitliche Gründe kein "wichtiger Grund" sind, eine Sperrzeit zu verhindern, erfuhr Melanie Frank. Die 18-jährige brach ihre Ausbildung zur Friseurin wegen einer Allergie gegen die verwendeten Chemikalien ab. Ihre 12-wöchige Sperrfrist begründete das Arbeitsamt lapidar mit den Worten: "Das hätten Sie vorher wissen müssen."
Melanie wusste dies nicht vorher. Sie weiß wie viele andere Arbeitslose auch nicht, dass ihr gesamter Anspruch auf Leistungen erlischt, wenn die Gesamtzeit der Sperrzeiten sich auf 24 Wochen summiert.
Es ist dieser "Kampf gegen die Arbeitslosen", den sich Bundesregierung und Bundesanstalt für Arbeit auf die Fahne geschrieben haben. Mit allen - fiesen - Tricks wird bei den Ärmsten gespart. Der Wuppertaler Sozialberatungsverein schildert, dass in der letzten Zeit der Andrang Arbeitsloser, die sich vom Arbeitsamt schikaniert und gedemütigt fühlen, so groß wie nie zuvor ist.
Sie empfinde einen Arbeitsamtbesuch beklemmend und frustrierend, erzählt die ehemalige Bademeisterin und Rettungsschwimmer-Ausbilderin Heike (43), seit zehn Jahren arbeitslos. "Auf das Arbeitsamt ist kein Verlass, dort ist man verraten und verkauft." Vor zehn Jahren musste die Alleinerziehende ihren Job aufgeben, da für ihren damals 12-jährigen Sohn keine Betreuung nach der Schule möglich war. Seitdem hangelt sie sich durch verschiedene Jobs und Maßnahmen des Arbeitsamtes. Eine Umschulung als Schneiderin, die sie anstrebte, wollte das Arbeitsamt nicht bezahlen, dafür steckte man sie in eine kaufmännische Trainingsmaßnahme. Da sie diese abbrach, muss sie nun 4.000 Euro Maßnahmekosten abzahlen - obgleich sie beim Abbruch mit dem Arbeitsamt in einer Art Aufhebungsvertrag vereinbarte, dass keine Repressalien drohen. Doch wie heißt es so schön: "Sie haben Ihr Beschäftigungsverhältnis auch dann selbst gelöst, wenn Sie einen Aufhebungsvertrag schließen. Denn der Vertrag kann ohne Ihre Zustimmung nicht zustande kommen."
Inzwischen ist Heike verheiratet, der Sohn studiert in Darmstadt. Ihr Mann, ehemaliger Asylsuchender, arbeitet nun in einer Küche für 4 Euro 50 die Stunde. "Mir wurde die Arbeitslosenhilfe in Höhe von rund 350 Euro gestrichen, als mein Mann anfing zu arbeiten", schildert sie. "Sein Verdienst beträgt 950 Euro netto. Seit zwei Wochen macht er Doppelschichten, um die Schulden zu bezahlen." Die habe er, weil er noch die Miete für seinen Wohncontainer während seiner Asyslbewerberzeit schuldig ist. "Für ein Bett, eine Kochstelle und Dusche, die er sich mit anderen zu teilen hatte, wurden ihm 300 Mark monatlich berechnet", berichtet Heike wütend.
Für Klaus S. ist der Besuch beim Arbeitsamt jedes Mal wie "ein Schlag in die Magengrube". Der 38-jährige ehemalige Student der Soziologie, Philosophie und Germanistik schlägt sich seit fast acht Jahren mit den Ämtern herum. Familiäre Probleme zwangen ihn vor acht Jahren zum Abbruch seines Studiums. "Ich habe eine Tochter, und zu der Zeit war ich zum Teil alleinerziehend." Während seiner anschließenden fünfjährigen Sozialhilfebedürftigkeit musste er immer wieder dreimonatigen Zwangsarbeiten nachgehen. Pro Arbeitsstunde erhielt er zwei DM (1 Euro) zusätzlich zu seiner Sozialhilfe. Im Rahmen einer "Arbeit statt Sozialhilfe"-Maßnahme kam er für eineinhalb Jahre als Verwaltungsangestellter unter. Eine feste Anstellung hatte dies genauso wenig zur Folge wie seine anschließende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Bürokraft im sozialen Bereich. Nun ist er wieder seit vier Monaten arbeitslos.
Auch sein Arbeitslosengeld wird derzeit gekürzt. "Ich war mit meiner Tochter, die wieder bei ihrer Mutter lebt, in den Urlaub gefahren. Ich hatte die Urlaubszeit nicht angemeldet, da sie mir diesen vermutlich abgelehnt hätten. Meine Tochter zu sehen ist mir sehr wichtig. Während dieser Zeit erhielt ich mehrere Termine vom Arbeitsamt. Die Infogespräche haben eh nur den Zweck, Sperren zu verhängen. Mir waren die Konsequenzen nicht bewusst."
Wer zu seinem Termin zu spät kommt, den trifft das gleiche Schicksal. Besonders Feiertage und "Brückentage" werden von Arbeitsamtsstrategen für Massenmeldetermine ausgesucht, "in der Annahme, Leistungsbezieher würden da vermehrt nicht erscheinen".
Die bundesweite Arbeitslosenzeitung quer warnt vor zahlreichen weiteren Fallen, wie Sperrzeiten durchgesetzt werden.
· Arbeitslose, die beim Arbeitsamt ihren Urlaub angegeben haben, werden während ihrer Abwesenheit verstärkt zu einem Meldetermin aufgefordert. Termin: acht Uhr morgens am ersten Werktag nach Urlaubsende. Wer nicht sofort in den Briefkasten schaut, sondern erst mal die Koffer auspackt, der verpasst den Termin und erhält eine Strafe.
· Durch häufige Einladeaktionen versuchen die Arbeitsämter, die wenigen Arbeitslosen herauszufinden, die in Urlaub fahren konnten, sich aber nicht beim Arbeitsamt abgemeldet haben, um sie mit Beistandssenkungen zu bestrafen.
· Wer sich nicht - ganz abstrakt, auch ohne Vorlage eines konkreten Stellenangebotes - zu seiner bundesweiten Vermittelbarkeit bekennt, droht aus der Unterstützung zu fallen.
· Weil es grundsätzlich für den Erwerbslosen zumutbar sei, ein Stellenangebot zu prüfen, sollen Vermittlungsvorschläge auch ohne Angaben zum Verdienst gemacht werden. Schließlich habe der Arbeitslose die Unzumutbarkeit des Angebotes nachzuweisen. "Sperrzeiten sind konsequent anzuwenden."
· Arbeitslose werden verstärkt auf "überregionale Ausgleichsfähigkeit (Land, Bund, EU)" überprüft. Im Bewerberangebot soll das Ergebnis, wieweit sich jemand überregional (auch europaweit!) vermitteln lassen würde, eingetragen werden. Gegebenenfalls müssten auch hier "leistungsrechtliche Konsequenzen eingeleitet" werden.
· Mütter, die sich nach der Erziehungszeit arbeitslos melden, sollen nach Darstellung von quer nun sofort wochenweise "Trainingskurse" erhalten - in der Annahme, dass viele nicht täglich von ihrer Familie abwesend sein können und somit aus dem Arbeitslosengeldbezug fallen.
Über einen ganz besonderen Einfallsreichtum verfügten Arbeitsvermittler des Lübecker Arbeitsamtes. Man will dort den Erwerbslosen, falls sie angetrunken zur Jobvermittlung kommen, die Finanzhilfe kürzen. Bei über 0,5 Promille Atem-Alkohol soll es für den betreffenden Tag kein Arbeitslosengeld geben. Bei Verweigerung des Tests, so die Lübecker Nachrichten, gibt es bis zum nächsten Erscheinen im Amt kein Geld.
Ist es verwunderlich, wenn, wie unter anderem im Duisburger Arbeitsamt geschehen, ein Arbeitsloser mit einer Pistole wütend um sich schießt? Die gereizte Spannung in den Arbeits- und Sozialämtern wird vermutlich noch weiter steigen, nämlich wenn ab nächstem Jahr das neue Arbeitslosengeld II für Arbeitslosenhilfebezieher eingeführt wird. Dann erhalten sie nur noch monatliche Leistungen, die sich am Sozialhilfesatz orientieren. Nach bisherigen Plänen sind dies im Westen 345, im Osten 331 Euro.
Auch Klaus S. sieht für die Zukunft enorme finanzielle Probleme auf sich zukommen. "Wenn das Arbeitslosengeld II eingeführt wird, erhalte ich nur noch 345 Euro im Monat. Wie soll das gehen? Ich zahle derzeit allein 150 Euro Unterhalt für meine Tochter. Auch dem Jugendamt muss ich meine Bemühungen zur Arbeitssuche nachweisen, da wird man richtig in die Zange genommen von allen Ämtern. Ich habe den Eindruck, ich verbringe mehr Zeit durch die Bedrängung, als wenn ich arbeiten würde, hinzu kommt noch der emotionale Stress und die enorme Aggressivität der Behörden."
Weiterhin sei der Zeitaufwand, um von geringen finanziellen Mitteln leben zu können, enorm groß. "Man muss alles vergleichen, weit und viel fahren, um zu sparen. Die Reise zur Tochter ist dann auch eingeschränkt." Die soziale Teilhabe würde sehr weit beschnitten. "Kino? Da war ich schon lange nicht mehr, man muss sehr genau überlegen, was man macht." Klaus fürchtet, er werde sein ganzes Leben arbeitslos sein und sich durchschlagen müssen.
"Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig", sagt Heike über die Unterstützung seitens des Arbeitsamtes. Speziell seit der Euro-Umstellung habe eine extreme Teuerung stattgefunden. "Ein Leben wird unmöglich gemacht, es ist nur noch ein Überleben, durch die extreme Preiserhöhung ist keine vernünftige Ernährung möglich." Wann sie zum letzten Mal im Theater, im Kino oder selbst im Freibad war, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. "Finanziell ist dies nicht machbar."
Urlaub? Heike verdreht die Augen. "Schon seit Jahren nicht mehr. Nicht die kleinen Dinge können wir uns leisten, dann erst gar nicht die Großen."
Dies bestätigen denn auch unisono Mitglieder des Erwerbslosenrates in Duisburg: "Bei 560 bis 570 Euro im Monat muss man sich ständig nach Billigwaren umsehen. Kulturelle Interessen, seien es Kino, Theater, Freibad, Essen oder gar Urlaub, gibt es bereits seit langem nicht mehr." Die einzigen Alternativen aus diesem "Teufelskreis" herauszukommen bestünden darin, "zwei oder drei Jobs anzunehmen oder sich ständig einzuschränken".
Der Erwerbslosenrat bemerkt zudem, dass neben den starken materiellen Problemen vermehrt auch psychische Begleiterscheinungen auftreten. Viele Arbeitslose schämten sich aufgrund von Diskriminierungen ihrer Situation (die von Kanzler Gerhard Schröder vor zwei Jahren losgetretene Faulenzer-Kampagne zeigt hier ihre Wirkung), fühlten sich selbst für ihre Situation verantwortlich und kapselten sich immer weiter von ihrer Umwelt ab.
Nichts ist offensichtlicher, als dass die massenhafte Arbeitslosigkeit und Verarmung ein gesellschaftliches und kein individuelles Problem darstellt, für das die Bundesregierung die volle Verantwortung trägt.
"Fördern und Fordern"
Wie die Arbeitsämter Gelder durch Sperrzeiten einsparen
Von Werner Albrecht und Benjamin Harder
3. September 2003
"Das wusste ich nicht", sagt Hamaza. Der 19-jährige aus Duisburg hat gerade seine Ausbildung als Zimmermann erfolgreich abgeschlossen, sich arbeitssuchend gemeldet und inzwischen eine zweiwöchige Sperrzeit bei seinem Arbeitslosengeld erhalten: weil er einen Termin nicht wahrnehmen konnte.
So wie Hamaza ergeht es vielen Arbeitslosen in letzter Zeit. Florian Gerster (SPD), Chef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg (BA), künftig "Bundesagentur für Arbeit" benannt, hat seinen Arbeitsamtdirektoren die Vorgabe gegeben, in diesem Jahr rund 2,9 Milliarden Euro beim Arbeitslosengeld einzusparen. Da aber die Unternehmen eher Arbeitsplätze abbauen als schaffen, sind die Einsparungen nicht durch eine verstärkte Vermittlung Arbeitsloser in Arbeit zu erzielen. Auch die von der Hartz-Kommission entwickelten Personal-Service-Agenturen (PSA), subventionierte Leiharbeiterfirmen, scheitern offensichtlich am Arbeitsmarkt: ganze 175 Arbeitslose sind bislang durch eine PSA zu einem festen Job gekommen.
Also muss anders gespart werden. "Das Einsparzauberwort heißt Sperrzeit", schreiben Beschäftigte der Arbeitsämter in einem Protestschreiben. "Den Arbeitslosen droht die Verfolgungsbetreuung."
Die Zahlen aus Nürnberg sind da eindeutig. Während im Monat Juli 280.000 Arbeitslose einen neuen Job fanden, verschwanden 329.000 in die schwammige "sonstige Nichterwerbsarbeit", seit Beginn des Jahres bereits über 2,2 Millionen. Ein großer Teil dieser Abgänge sind Arbeitssuchende, die ohnehin keine Leistungen (mehr) aus der Arbeitslosenversicherung erhalten. Nichtleistungsempfänger unter 25 Jahren werden beispielsweise zur monatlichen Meldekontrolle eingeladen - und zwar "bis zwei Tage vor der monatlichen Statistikzählung"; bei Nichterscheinen wird der Jugendliche aus der Statistik gestrichen. Dies frisiert höchstens die Arbeitslosenstatistik, spart aber nicht direkt Geld ein. Deshalb gilt das Augenmerk der Arbeitsämter denen, die noch Leistungen erhalten. Der Anteil derer, die wegen "fehlender Mitwirkung" Sperrzeiten beim Leistungsbezug erhalten und unter diese Rubrik fallen, wächst.
Im ersten Quartal dieses Jahres sind die verhängten Sperrzeiten um 21,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, die Sperrzeiten wegen angeblicher Ablehnung von Arbeitsangeboten, Trainingsmaßnahmen oder ähnlichem sogar um 65,4 Prozent. Im April und Mai (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) stiegen diese Werte sogar um 147 Prozent gegenüber dem Vorjahr! Allein im April waren über 11.000 Menschen betroffen. Insgesamt rechnet die Bundesanstalt für Arbeit mit mindestens 140.000 Sperrzeiten in diesem Jahr, kündigte BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt an.
Es ist davon auszugehen, dass Heinrich Alt mit der ab 1. Juli eingeführten Regelung der sofortigen Arbeitslosmeldung seinem Ziel ein gutes Stück näher kommen wird. Ab 1. Juli hat sich ein Arbeiter, der eine Kündigung erhält, umgehend beim Arbeitsamt zu melden. Erfolgt die Meldung beim Arbeitsamt nicht rechtzeitig, wird das Arbeitslosengeld für jeden Tag der verspäteten Meldung bis zu einer Höchstgrenze von 30 Tagen gekürzt, im Extremfall bis zu 1.500 Euro.
Schon seit langem wurde die Unterstützung gekürzt, wenn der Beschäftigte seinen Job selbst kündigt. Nun hat er fast grundsätzlich mit einer bis zu 12-wöchigen Kürzung zu rechnen. Denn, so das Arbeitsamt: "Sie haben Ihr Beschäftigungsverhältnis auch dann selbst gelöst, wenn Sie einen Aufhebungsvertrag schließen. Denn der Vertrag kann ohne Ihre Zustimmung nicht zustande kommen." Und selbst bei einer Kündigung wird es für den ein oder anderen schwer, seinen Beamten davon zu überzeugen, dass er keine Schuld an seiner Arbeitslosigkeit trägt. "Viele Arbeitgeber sprechen gegenüber langjährigen Beschäftigten ohne deren Einwilligung keine Kündigung aus", informiert das Arbeitsamt. "Gegebenenfalls bedeutet dies,eigene Arbeitsaufgabe ohne wichtigen Grund’."
Dass selbst gesundheitliche Gründe kein "wichtiger Grund" sind, eine Sperrzeit zu verhindern, erfuhr Melanie Frank. Die 18-jährige brach ihre Ausbildung zur Friseurin wegen einer Allergie gegen die verwendeten Chemikalien ab. Ihre 12-wöchige Sperrfrist begründete das Arbeitsamt lapidar mit den Worten: "Das hätten Sie vorher wissen müssen."
Melanie wusste dies nicht vorher. Sie weiß wie viele andere Arbeitslose auch nicht, dass ihr gesamter Anspruch auf Leistungen erlischt, wenn die Gesamtzeit der Sperrzeiten sich auf 24 Wochen summiert.
Es ist dieser "Kampf gegen die Arbeitslosen", den sich Bundesregierung und Bundesanstalt für Arbeit auf die Fahne geschrieben haben. Mit allen - fiesen - Tricks wird bei den Ärmsten gespart. Der Wuppertaler Sozialberatungsverein schildert, dass in der letzten Zeit der Andrang Arbeitsloser, die sich vom Arbeitsamt schikaniert und gedemütigt fühlen, so groß wie nie zuvor ist.
Sie empfinde einen Arbeitsamtbesuch beklemmend und frustrierend, erzählt die ehemalige Bademeisterin und Rettungsschwimmer-Ausbilderin Heike (43), seit zehn Jahren arbeitslos. "Auf das Arbeitsamt ist kein Verlass, dort ist man verraten und verkauft." Vor zehn Jahren musste die Alleinerziehende ihren Job aufgeben, da für ihren damals 12-jährigen Sohn keine Betreuung nach der Schule möglich war. Seitdem hangelt sie sich durch verschiedene Jobs und Maßnahmen des Arbeitsamtes. Eine Umschulung als Schneiderin, die sie anstrebte, wollte das Arbeitsamt nicht bezahlen, dafür steckte man sie in eine kaufmännische Trainingsmaßnahme. Da sie diese abbrach, muss sie nun 4.000 Euro Maßnahmekosten abzahlen - obgleich sie beim Abbruch mit dem Arbeitsamt in einer Art Aufhebungsvertrag vereinbarte, dass keine Repressalien drohen. Doch wie heißt es so schön: "Sie haben Ihr Beschäftigungsverhältnis auch dann selbst gelöst, wenn Sie einen Aufhebungsvertrag schließen. Denn der Vertrag kann ohne Ihre Zustimmung nicht zustande kommen."
Inzwischen ist Heike verheiratet, der Sohn studiert in Darmstadt. Ihr Mann, ehemaliger Asylsuchender, arbeitet nun in einer Küche für 4 Euro 50 die Stunde. "Mir wurde die Arbeitslosenhilfe in Höhe von rund 350 Euro gestrichen, als mein Mann anfing zu arbeiten", schildert sie. "Sein Verdienst beträgt 950 Euro netto. Seit zwei Wochen macht er Doppelschichten, um die Schulden zu bezahlen." Die habe er, weil er noch die Miete für seinen Wohncontainer während seiner Asyslbewerberzeit schuldig ist. "Für ein Bett, eine Kochstelle und Dusche, die er sich mit anderen zu teilen hatte, wurden ihm 300 Mark monatlich berechnet", berichtet Heike wütend.
Für Klaus S. ist der Besuch beim Arbeitsamt jedes Mal wie "ein Schlag in die Magengrube". Der 38-jährige ehemalige Student der Soziologie, Philosophie und Germanistik schlägt sich seit fast acht Jahren mit den Ämtern herum. Familiäre Probleme zwangen ihn vor acht Jahren zum Abbruch seines Studiums. "Ich habe eine Tochter, und zu der Zeit war ich zum Teil alleinerziehend." Während seiner anschließenden fünfjährigen Sozialhilfebedürftigkeit musste er immer wieder dreimonatigen Zwangsarbeiten nachgehen. Pro Arbeitsstunde erhielt er zwei DM (1 Euro) zusätzlich zu seiner Sozialhilfe. Im Rahmen einer "Arbeit statt Sozialhilfe"-Maßnahme kam er für eineinhalb Jahre als Verwaltungsangestellter unter. Eine feste Anstellung hatte dies genauso wenig zur Folge wie seine anschließende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Bürokraft im sozialen Bereich. Nun ist er wieder seit vier Monaten arbeitslos.
Auch sein Arbeitslosengeld wird derzeit gekürzt. "Ich war mit meiner Tochter, die wieder bei ihrer Mutter lebt, in den Urlaub gefahren. Ich hatte die Urlaubszeit nicht angemeldet, da sie mir diesen vermutlich abgelehnt hätten. Meine Tochter zu sehen ist mir sehr wichtig. Während dieser Zeit erhielt ich mehrere Termine vom Arbeitsamt. Die Infogespräche haben eh nur den Zweck, Sperren zu verhängen. Mir waren die Konsequenzen nicht bewusst."
Wer zu seinem Termin zu spät kommt, den trifft das gleiche Schicksal. Besonders Feiertage und "Brückentage" werden von Arbeitsamtsstrategen für Massenmeldetermine ausgesucht, "in der Annahme, Leistungsbezieher würden da vermehrt nicht erscheinen".
Die bundesweite Arbeitslosenzeitung quer warnt vor zahlreichen weiteren Fallen, wie Sperrzeiten durchgesetzt werden.
· Arbeitslose, die beim Arbeitsamt ihren Urlaub angegeben haben, werden während ihrer Abwesenheit verstärkt zu einem Meldetermin aufgefordert. Termin: acht Uhr morgens am ersten Werktag nach Urlaubsende. Wer nicht sofort in den Briefkasten schaut, sondern erst mal die Koffer auspackt, der verpasst den Termin und erhält eine Strafe.
· Durch häufige Einladeaktionen versuchen die Arbeitsämter, die wenigen Arbeitslosen herauszufinden, die in Urlaub fahren konnten, sich aber nicht beim Arbeitsamt abgemeldet haben, um sie mit Beistandssenkungen zu bestrafen.
· Wer sich nicht - ganz abstrakt, auch ohne Vorlage eines konkreten Stellenangebotes - zu seiner bundesweiten Vermittelbarkeit bekennt, droht aus der Unterstützung zu fallen.
· Weil es grundsätzlich für den Erwerbslosen zumutbar sei, ein Stellenangebot zu prüfen, sollen Vermittlungsvorschläge auch ohne Angaben zum Verdienst gemacht werden. Schließlich habe der Arbeitslose die Unzumutbarkeit des Angebotes nachzuweisen. "Sperrzeiten sind konsequent anzuwenden."
· Arbeitslose werden verstärkt auf "überregionale Ausgleichsfähigkeit (Land, Bund, EU)" überprüft. Im Bewerberangebot soll das Ergebnis, wieweit sich jemand überregional (auch europaweit!) vermitteln lassen würde, eingetragen werden. Gegebenenfalls müssten auch hier "leistungsrechtliche Konsequenzen eingeleitet" werden.
· Mütter, die sich nach der Erziehungszeit arbeitslos melden, sollen nach Darstellung von quer nun sofort wochenweise "Trainingskurse" erhalten - in der Annahme, dass viele nicht täglich von ihrer Familie abwesend sein können und somit aus dem Arbeitslosengeldbezug fallen.
Über einen ganz besonderen Einfallsreichtum verfügten Arbeitsvermittler des Lübecker Arbeitsamtes. Man will dort den Erwerbslosen, falls sie angetrunken zur Jobvermittlung kommen, die Finanzhilfe kürzen. Bei über 0,5 Promille Atem-Alkohol soll es für den betreffenden Tag kein Arbeitslosengeld geben. Bei Verweigerung des Tests, so die Lübecker Nachrichten, gibt es bis zum nächsten Erscheinen im Amt kein Geld.
Ist es verwunderlich, wenn, wie unter anderem im Duisburger Arbeitsamt geschehen, ein Arbeitsloser mit einer Pistole wütend um sich schießt? Die gereizte Spannung in den Arbeits- und Sozialämtern wird vermutlich noch weiter steigen, nämlich wenn ab nächstem Jahr das neue Arbeitslosengeld II für Arbeitslosenhilfebezieher eingeführt wird. Dann erhalten sie nur noch monatliche Leistungen, die sich am Sozialhilfesatz orientieren. Nach bisherigen Plänen sind dies im Westen 345, im Osten 331 Euro.
Auch Klaus S. sieht für die Zukunft enorme finanzielle Probleme auf sich zukommen. "Wenn das Arbeitslosengeld II eingeführt wird, erhalte ich nur noch 345 Euro im Monat. Wie soll das gehen? Ich zahle derzeit allein 150 Euro Unterhalt für meine Tochter. Auch dem Jugendamt muss ich meine Bemühungen zur Arbeitssuche nachweisen, da wird man richtig in die Zange genommen von allen Ämtern. Ich habe den Eindruck, ich verbringe mehr Zeit durch die Bedrängung, als wenn ich arbeiten würde, hinzu kommt noch der emotionale Stress und die enorme Aggressivität der Behörden."
Weiterhin sei der Zeitaufwand, um von geringen finanziellen Mitteln leben zu können, enorm groß. "Man muss alles vergleichen, weit und viel fahren, um zu sparen. Die Reise zur Tochter ist dann auch eingeschränkt." Die soziale Teilhabe würde sehr weit beschnitten. "Kino? Da war ich schon lange nicht mehr, man muss sehr genau überlegen, was man macht." Klaus fürchtet, er werde sein ganzes Leben arbeitslos sein und sich durchschlagen müssen.
"Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig", sagt Heike über die Unterstützung seitens des Arbeitsamtes. Speziell seit der Euro-Umstellung habe eine extreme Teuerung stattgefunden. "Ein Leben wird unmöglich gemacht, es ist nur noch ein Überleben, durch die extreme Preiserhöhung ist keine vernünftige Ernährung möglich." Wann sie zum letzten Mal im Theater, im Kino oder selbst im Freibad war, daran kann sie sich nicht mehr erinnern. "Finanziell ist dies nicht machbar."
Urlaub? Heike verdreht die Augen. "Schon seit Jahren nicht mehr. Nicht die kleinen Dinge können wir uns leisten, dann erst gar nicht die Großen."
Dies bestätigen denn auch unisono Mitglieder des Erwerbslosenrates in Duisburg: "Bei 560 bis 570 Euro im Monat muss man sich ständig nach Billigwaren umsehen. Kulturelle Interessen, seien es Kino, Theater, Freibad, Essen oder gar Urlaub, gibt es bereits seit langem nicht mehr." Die einzigen Alternativen aus diesem "Teufelskreis" herauszukommen bestünden darin, "zwei oder drei Jobs anzunehmen oder sich ständig einzuschränken".
Der Erwerbslosenrat bemerkt zudem, dass neben den starken materiellen Problemen vermehrt auch psychische Begleiterscheinungen auftreten. Viele Arbeitslose schämten sich aufgrund von Diskriminierungen ihrer Situation (die von Kanzler Gerhard Schröder vor zwei Jahren losgetretene Faulenzer-Kampagne zeigt hier ihre Wirkung), fühlten sich selbst für ihre Situation verantwortlich und kapselten sich immer weiter von ihrer Umwelt ab.
Nichts ist offensichtlicher, als dass die massenhafte Arbeitslosigkeit und Verarmung ein gesellschaftliches und kein individuelles Problem darstellt, für das die Bundesregierung die volle Verantwortung trägt.