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Daniel Kreuz: Systemwechsel am Arbeitsmarkt – Alternativen sind möglich

Systemwechsel am Arbeitsmarkt – Alternativen sind möglich

Nicht zu Unrecht bezeichnete die Bundesregierung die zu Jahresbeginn in Kraft getretenen Hartz-Gesetze als bisher „größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte der Bundesrepublik“. Nimmt man die Auswirkungen des aktuellen Rückzugs des Bundes aus der Mitfinanzierung der Arbeitsmarktpolitik sowie die von der Hartz-Kommission vorgeschlagene Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen „Arbeitslosengeld II (ALG II)“ auf Sozialhilfeniveau hinzu, die zum 1. Januar 2004 in Kraft treten soll, dann ergibt sich folgendes Bild:
Die Funktion der Bundesanstalt für Arbeit (BA) als Träger von Arbeitsförderung und Arbeitslosenversicherung verändert sich grundlegend. Von einer angemessenen und ausreichenden sozialen Absicherung des Risikos Erwerbslosigkeit und einer Unterstützung insbesondere der am Arbeitsmarkt benachteiligten Zielgruppen kann keine Rede mehr sein. Die sozialpolitische Verantwortung der Arbeitsverwaltung gegenüber den Erwerbslosen wird abgelöst von wettbewerbspolitischer Verantwortung gegenüber der Arbeitgeber-Kundschaft. Mit Hilfe der Sanktionsdrohungen der „Neuen Zumutbarkeit“, deren weitere Verschärfung auf der „Agenda 2010“ des Bundeskanzlers steht, sowie mit der Aussicht auf den Absturz in Armut nach Auslaufen des dem bisherigen Arbeitslosengeld entsprechenden ALG I – womöglich noch vorgezogen - sollen vorrangig die „marktfähigen“ Erwerbslosen in eine der Varianten prekärer Niedriglohnjobs getrieben werden, auf deren Ausgestaltung sich die beschäftigungspolitischen Aspekte der Hartz-Gesetze ausschließlich konzentrieren:
· Vor allem den Frauen winken dabei die „Mini-Jobs“ bis 400 Euro. Da die 15-Stunden-Höchstgrenze der geringfügigen Beschäftigung entfallen ist, können einerseits die Stundenlöhne gedrückt und andererseits die über 15 Stunden arbeitenden Mini-Jobberinnen aus der Erwerbslosenstatistik gestrichen werden .
· Ein neuer Niedriglohnbereich wurde für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro (sog. „Gleitzone“) ausgestaltet. Abschläge bei den Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung sorgen hier für zusätzliche Verbilligung der Arbeitskosten. Auch dieses Billig-Job-Segment dürfte vorrangig von teilzeitbeschäftigten Frauen besetzt werden.
· Vor allem Frauen ist auch die Rolle der „mitarbeitenden Familienangehörigen“ in der Neuen Scheinselbstständigkeit der „Ich-AG“ zugedacht, die von der BA bis zu drei Jahre bezuschusst wird, so lange das Jahresbruttoeinkommen 25.000 Euro nicht übersteigt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der BA befürchtete hier eine „Förderung von Kümmerexistenzen, Schulden und Pleiten“.
· Vorrangig ein „Männermarkt“ ist dagegen der mit den in allen Arbeitsamtsbezirken und vorrangig in Trägerschaft kommerzieller Verleiher einzurichtenden „PersonalServiceAgenturen“ (PSA) ausgeweitete Leiharbeitsmarkt. Die im Gegenzug zur Aufhebung sämtlicher gesetzlicher Beschränkungen für Leiharbeit beabsichtigte tarifliche Regulierung wird nichts daran ändern (können), dass Leiharbeit ihre durch niedrige Preise bedingte wirtschaftliche Attraktivität für Arbeitgeber behält.
Die vom Kanzler in der „Agenda 2010“ vorgesehene Kürzung der ALG-Bezugsdauer für Ältere wird den Druck auf Betroffene erhöhen, von der neuen „Entgeltsicherung“ Gebrauch zu machen. Diese „versüßt“ Älteren die Annahme eines Billig-Jobs (außerhalb von PSA), indem die Hälfte der monatlichen Nettoentgeltdifferenz zum früheren Job und die Verluste bei den Rentenversicherungsbeiträgen für die Dauer des ansonsten geltenden ALG-Anspruchs ausgeglichen wird.
Niemand glaubt ernsthaft daran, dass die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung hauptsächlich über ein zusätzliches Angebot an Billig-Jobs erfolgen wird. Stattdessen werden vor allem Substitutionseffekte, also die Ersetzung regulärer Arbeitsplätze, erwartet. Damit folgen die rot-grünen Arbeitsmarktreformen einerseits geradlinig der Schlüsselthese des Neoliberalismus, wonach der „zu hohe“ Preis der Arbeitskraft Ursache der Massenerwerbslosigkeit sei. Andererseits vergrößert die Niedriglohnstrategie auch die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung, weil kleine Einkommen nur kleine Beiträge bringen .

Raus aus dem Leistungsbezug!
Der seit Mitte der 1990er Jahre als „Nebenwirkung“ einer stärkeren Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik auf Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt diskutierte Effekt des „creaming the poor“, also die Konzentration von Arbeitsfördermaßnahmen auf leichter vermittelbare Zielgruppen, ist zur Geschäftsgrundlage der Arbeitsverwaltung geworden. Die Arbeitsverwaltung anerkennt und finanziert derzeit nur noch Bildungsmaßnahmen, die eine Vermittlungsquote von mindestens 70% nachweisen können. Im März 2003 brach die Zahl der Erwerbslosen, die eine vom Arbeitsamt finanzierte Weiterbildungsmaßnahme begannen, im Vergleich zum Vorjahresmonat im Westen um 57%, im Osten sogar um 63% ein. Befürchtet wird, dass bis zu 20.000 der rund 100.000 fest angestellten MitarbeiterInnen der Weiterbildungsbranche ihren Job verlieren könnten.
Ist der Kurs auf die vorrangige Steigerung der Vermittlungsquoten angesichts der millionenfachen Angebotslücke bei Arbeitsplätzen ohnehin nur noch gespenstisch, gerät er unter dem Druck, trotz der Mehraufwendungen für Hartz-Maßnahmen den Bundeszuschuss auf Null zu fahren, zum nackten Herausdrängen Betroffener aus dem Leistungsbezug. Im Frühjahr erhielten die Arbeitsämter Weisung, mit Meldekontrollen und Zuweisungen zu PSA bestimmte Quoten der vorübergehenden oder gänzlichen Einstellung der Lohnersatzleistung wegen mangelnder Mitwirkung zu produzieren. Möglichst hohe Einsparungen bei den Lohnersatzleistungen zu erzielen, ist das eigentliche Ziel einer „Vermittlungsorientierung“, die Qualifizierungsmaßnahmen und Vermittlung rigoros auf „teure“ Erwerbslose im ALG-Bezug konzentriert und dazu Arbeitslosenhilfebeziehende , Menschen mit „Vermittlungshemmnissen“ oder ohne Leistungsanspruch – wie Berufsrückkehrerinnen - außen vor lässt.
„Raus aus dem Leistungsbezug“ kann auch als Überschrift für die Verschärfungen bei der Anrechnung von Partnereinkommen und –vermögen von Arbeitslosenhilfebeziehenden gelten, die als erster Schritt zur Abschaffung der ALHI mit den Hartz-Gesetzen vollzogen wurden. Vor allem Frauen verlieren dadurch in großer Zahl nicht nur ihre ALHI-Ansprüche, sondern auch die daran gekoppelten rentenrechtlichen Ansprüche.

Systematische Armutsförderung
Während die „größte Arbeitsmarktreform der Geschichte“ den Arbeitgebern billige Arbeitskräfte liefert und sie dabei mit „passgenauer“ Qualifizierung auch von den Kosten betrieblicher Anpassungsqualifizierung entlastet, fördert sie „unten“ vor allem Armut und Ausgrenzung. Müssen in NRW schon bisher rund 10.000 Vollzeitbeschäftigte ergänzende Sozialhilfe beziehen, wird die Niedriglohnstrategie die Armut trotz Arbeit (working poor) wachsen lassen. Der Zwang zur Annahme von Billig-Jobs, den Bundeswirtschaftsminister Clement auf Mini-Jobs ausweiten will, führt zu mehr Armut bei wieder eintretender Erwerbslosigkeit, wenn sich schon die ALG I-Ansprüche nach dem niedrigen Bemessungsentgelt richten.
Mehr denn je wird das ALG II auf Sozialhilfeniveau ein Gleichheitszeichen zwischen Langzeiterwerbslosigkeit und Armut setzen. Überdies wird befürchtet, dass das (bisherige) Sozialhilfeniveau noch unterschritten wird, wenn Mehrbedarfe oder einmalige Leistungen der Pauschalierung von Leistungen zum Opfer fallen. Noch ist unklar, ob die individualisierte Hilfe zum Lebensunterhalt nach BSHG überhaupt erhalten bleibt, oder ob sie nicht gänzlich vom ALG II für die „Erwerbsfähigen“ und der Grundsicherung für dauerhaft nicht Erwerbsfähige abgelöst wird.
Armut im Alter wird für BilliglöhnerInnen, Langzeiterwerbslose und Menschen mit häufigen Wechsel zwischen einem Job und Erwerbslosigkeit praktisch unausweichlich - vor allem wiederum für die Frauen unter ihnen -, zumal in den bisher bekannten Überlegungen zum ALG II - wie bisher in der Sozialhilfe – keine Rentenbeitragszahlung vorgesehen ist.

Soziale Desintegration
Zu den Kehrseiten der „vermittlungsorientierten“ workfare-Politik zählt auch die Wendung gegen den zweiten Arbeitsmarkt. Standen noch vor wenigen Jahren Konzepte „integrierter Arbeitsmarktpolitik“ hoch im Kurs, die mit öffentlich geförderter Beschäftigung (ABM, SAM, „Arbeit statt Sozialhilfe“, etc.) zugleich Effekte der Arbeitsförderung, der sozialen Inklusion Erwerbsloser und der Infrastrukturverbesserung in sozialen und kulturellen Bedarfsbereichen erzielten, gelten diese heute als Mittelverschwendung und Hindernis für die Vermittlung in den ersten, jetzt ausschließlich privatwirtschaftlich definierten Arbeitsmarkt. Die Parole „Es ist nicht Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik, Träger zu finanzieren“, die den gegen den Zusammenbruch von Weiterbildungsangeboten Protestierenden aus der Politik entgegen schallte, gilt gleichermaßen für alle anderen sozialen, ökologischen und kulturellen Projekte, die mangels Regelfinanzierung nur auf den Krücken des zweiten Arbeitsmarkts stehen können. Da sich Länder und Kommunen zur gleichen Zeit wegen ihrer Haushaltskrisen aus der Finanzierung „freiwilliger“ Aufgaben in solchen Bereichen zurückziehen und „wegen Hartz“ eigene Arbeitsmarktprogramme zurückfahren, drohen kumulative Effekte des Verlustes ganzer Infrastrukturen. Kompensatorische Aufgaben gegenüber den Folgen der sozialen Krise – etwa in den sozialen Brennpunkten der städtischen Ballungsräume – werden zunehmend weniger wahrgenommen.
Soziale Desintegration wird auch befördert durch die mit der Neuen Zumutbarkeit verschärften Mobilitätsanforderungen an Erwerbslose. Junge Erwerbslose und solche, die keine familiären Hinderungsgründe geltend machen können, wurden verpflichtet, sich bundesweit vermitteln zu lassen. Zwar ist angesichts fehlender Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte nicht zu erwarten, dass diese neue Form der Zwangsmobilität in größerem Stil zum Tragen kommt. Doch schon bisher ist zu beobachten, dass die zunehmende Mobilitätsanforderungen an Arbeitssuchende zum Verlust sozialer Zusammenhänge beitragen und Belastungen für Familien erhöhen. Auch die politisch geförderte zeitliche Flexibilisierung der Erwerbsarbeit trägt wesentlich dazu bei, dass die Tragfähigkeit „informeller“ sozialer Netzwerke der Kinderbetreuung oder der Altenpflege abnimmt.

Armenpolizeiliche Repression statt „kundenorientierter“ Dienstleistung
Der wettbewerbsstaatliche Umbau wird verbrämt mit der Behauptung, die noch stärker „marktwirtschaft“ ausgerichtete Arbeitsverwaltung, die viele ihrer Aufgaben an Private outgesourct hat, werde sich dabei von einer „bürokratischen Verwaltung“ der Erwerbslosigkeit zu einem „kundenorientierten“ Dienstleister weiterentwickeln. Doch nichts wäre irriger als der Glaube, die Rolle von „König Kunde“ falle dabei den Erwerbslosen zu. Kunde am Markt ist immer, wer die Rechnung bezahlt. Auch in anderen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens, die nach dem Vorbild von Wettbewerbsmärkten umgebaut werden, sind dies in aller Regel nicht diejenigen, die auf die Dienstleistungen angewiesen sind. Ihre Rolle nähert sich eher der des Rohstoffs, mit dessen Verarbeitung das Geschäft gemacht wird.
Erst Recht absurd wird das Gerede vom Erwerbslosen als „Kunden“ im Kontext einer Arbeitsmarktpolitik, deren meist wenig verlockende „Angebote“ er bei Strafe von Kürzung oder Entzug der Transferleistung er nicht ablehnen darf. Die workfare-Politik stellt unterwirft die Betroffenen mehr denn je obrigkeitsstaatlicher Kuratel. Grundrechte auf Selbstbestimmung, auf Berufswahlfreiheit und auf Freizügigkeit verlieren für Menschen im Sozialleistungsbezug ihre Geltung. Ihnen wendet der sich ansonsten „liberal“ gerierende Staat seine repressiv-autoritäre Kehrseite zu.
Die Rolle der (frei gemeinnützigen oder privaten) Träger der Arbeitsmarktpolitik und der dort Beschäftigten wandelt sich im Zuge dieser Entwicklung von sozialer Hilfe und Unterstützung zunehmend zu der armenpolizeilicher „Hilfssheriffs“. Es sollte sich niemand wundern, wenn die Beziehungen zum „Klientel“ schwieriger werden, wenn Gewaltbereitschaft ebenso zunimmt wie die Neigung, sich vor dieser Maschinerie in Schattenwirtschaft oder Kriminalität zu „flüchten“. Wenn denn von einer neuen „Kundenorientierung der“ Arbeitsverwaltung die Rede sein kann, dann gilt sie allein den Arbeitgebern, denen billige und gezwungenermaßen willige, „passgenau“ vorproduzierte Arbeitskräfte mit Rückgaberecht zugeführt werden.

Wettbewerbsstaatlicher Systemwechsel
Die als „Modernisierung“, als „Umbau des Sozialstaates“ zum Zweck seiner „Substanzerhaltung“ in einer globalisierten Weltwirtschaft vermarkteten Reformen haben seit Beginn der 1990er Jahre einen grundlegenden Systemwechsel vorangetrieben, der die Wettbewerbsfähigkeit der Standort Deutschland AG nachhaltig von den Kosten sozialer Regulierungen des „rheinischen“ Sozialstaats entlasten soll. Zu Gunsten derart forcierter Umverteilung „nach oben“ werden soziale Garantien geschleift, Schutzrechte demontiert, soziale Sicherungssysteme schrittweise privatisiert, öffentliches Eigentum verscherbelt und Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge dem Kapitalmarkt ausgeliefert.
Das die Rechtsverhältnisse des „rheinischen“ Sozialstaats maßgeblich prägende Solidarprinzip, das die wirtschaftlich „starken Schultern“ institutionell verpflichtete, die Lasten der Schwachen mit zu tragen, wird ersetzt durch das Wettbewerbsprinzip, durch die Konkurrenz eines jeden gegen alle anderen. Nirgends wird dies greifbarer als auf dem Arbeitsmarkt, wo man das Heer der Erwerbssuchenden mit der Armutspeitsche aufmischt, um es in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf gegeneinander um das bei weitem zu geringe Arbeitsplatzangebot zu treiben. Unterdessen spitzt sich die Konzentration von Einkommen und Vermögen an der Spitze der sozialen Hierarchie zu.
Auch für diejenigen, die ihn vollenden wollen, bleibt der wettbewerbsstaatliche Systemwechsel ein gesellschaftliches Großexperiment mit ungewissem Ausgang. Der aktuelle Streit in der SPD um die Agenda 2010 ist ein schwacher Wiederschein dessen, dass zurzeit zwar minoritäre, aber durchaus nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung die Zerstörung sozialer Perspektiven nicht goutieren. Die Ideologie der Alternativlosigkeit des rückwärtsgewandten Radikalreformismus, maßgeblich über die (Post-)Sozialdemokratie in die Führungsetagen der traditionell für soziale Gerechtigkeit „zuständigen“ Institutionen, Organisationen und Verbände hinein transportiert, konnte zwar bisher der zivilgesellschaftlichen Opposition gegen den neoliberalen Kurs ihre öffentliche Artikulationsfähigkeit nehmen. Eine veritable Niederlage hat sie allerdings noch nicht hinnehmen müssen, weil ein ernsthafter „Kampf“ um die Richtung der Entwicklung noch nicht stattgefunden hat.
Soweit die AkteurInnen sozialer Arbeit daran interessiert sind, sich eine Alternative zu der ihnen im Wettbewerbsstaat zugedachten Rolle als Hilfssheriffs der workfare-Politik und „Minenräumer“ in Armutsghettos zu erschließen, sollten sie ihre fachlichen Kompetenzen in Sozialpolitik übersetzen, um im öffentlichen Diskurs zur Konturierung und Konkretisierung realitätstauglicher sozialstaatlicher Alternativen beizutragen.

Sozialstaatliche Alternativen sind möglich!
Der wettbewerbsstaatliche Gesellschaftsumbau löst nicht, sondern verstärkt sowohl die Wachtums- wie die Arbeitsmarktkrise sowie die Finanzierungskrise der Sozialsysteme, weil an der sozialstaatlichen Sekundärverteilung (Steuern und Abgaben) unmittelbar sowohl die Arbeitsplätze des öffentlichen Sektors als auch die auf Sozialleistungen gestützte Massenkaufkraft hängen. Massenerwerbslosigkeit und private wie öffentliche Armut sind weit weniger Folge mangelnden Wirtschaftswachstums als einer zunehmend ungleichen Verteilung von Erwerbsarbeit, Einkommen und Vermögen. Die allfälligen „Sachzwang“-Behauptungen der Systemreformer von Neoliberalen und Neuer „Mitte“ haben vorrangig den Zweck, diese Umstände zu verdecken.
Der Schlüssel zu praktikablen und glaubwürdigen sozialstaatliche Alternativen liegt vor allem darin, die Verteilungsfragen offen aufzuwerfen und sie in einer menschenrechtlich fundierten, egalitären Richtung neu zu beantworten. Die „konzeptionelle“ Schwierigkeit einer sozialen Alternative besteht vor allem darin, das sie zwar im Rahmen nationaler Politiken begonnen werden kann und muss, aber auf „Euroland“ und die globalen Regulierungsinstitutionen zielen muss, um dauerhaft tragfähig werden zu können.
Begonnen werden kann und muss die Ausweitung des regulären Arbeitsplatzangebots, etwa durch
· rasche Arbeitszeitverkürzungen bei Sicherung auskömmlicher Einkommen und Bindung von Arbeitszeitflexibilität an individuelle statt Markt-Erfordernisse. Dabei wäre auf ein „Neues Normalarbeitsverhältnis“ zu zielen, das die bisher in prekäre Sonderarbeitsformen entsorgten Erfordernisse der „weiblichen“ Erwerbsbiografien als Regelfall zu Grunde legt.
· (Wieder-)Aufbau und Ausbau der öffentlichen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere in den Bereichen Kinderbetreuung, Schule und Bildung, Alten- und Krankenpflege.
· Beschleunigung des ökologischen Strukturwandels – insbesondere durch Investitionen in die Wasserver- und -entsorgung, in regenerative Energien und zur Erhöhung der Energieeffizienz, in die öffentlichen Verkehrssysteme sowie in eine verkehrsreduzierende Strukturentwicklung.
· Aufbau eines gesicherten zweiten Arbeitsmarktes, der schwer Vermittelbaren zu regulären Konditionen sinnvolle Arbeit in Bereichen ungedeckten gesellschaftlichen Bedarfs bietet. Zu dessen Finanzierung könnte eine Arbeitsmarktabgabe derer, die nicht in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, erhoben werden.
Die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Hände wären in ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit kurzfristig zu stärken. Notwendig ist eine Steuer- und Abgabenpolitik, die die wirtschaftlich Starken nach Maßgabe des Verfassungsgrundsatzes von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums wieder angemessen in die Finanzierungsaufgaben eines solidarischen und zukunftsfähigen Gemeinwesens einbindet (Solidarstaat). Zugunsten der Sozialversicherung, deren Einnahmebasis wegen der seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernden Schrumpfung der beitragspflichtigen Lohn- und Gehaltssumme erodiert und deren Ausgabeseite mit Folgekosten der deutschen Vereinigung einseitig belastet ist, wäre kurzfristig etwa zu denken an
· die Aufhebung der mit dem Solidarprinzip unvereinbaren Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen;
· die Rückholung der Arbeitgeber in ihre hälftige Finanzierungsverantwortung (Pflegeversicherung!);
· die Einführung einer ergänzenden Wertschöpfungsabgabe der Wirtschaft, die dafür sorgt, dass sich Unternehmen nicht mehr mit Arbeitsplatzabbau zugleich aus der Finanzierung der Sozialsysteme verabschieden;
· die Einbeziehung von Vermögenseinkommen Versicherter in die Beitragspflicht.

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