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Die „Coburger Erklärung” ist nur die Spitze eines Eisberges

Ein Formular aus dem oberfränkischen Landkreis Coburg schränkt die Rechte von Leistungsbeziehern drastisch ein. Dabei handelt es sich um ein krasses Beispiel von Behördenwillkür und Rechtslosstellung von Langzeitarbeitslosen durch eine Arbeitslosengeld II (Alg II) -Behörde. Diese Praxis ist repräsentativ für eine neue Qualität des Umgangs mit Alg II-Bezieher/-innen und die Ausbreitung „rechtsarmer” Räume in den Sozialbehörden.

Der Vordruck des Jobcenter Coburg Land, den alle Alg II-Antragsteller unterzeichenen müssen, beschneidet die sozialen Rechte von Leistungsbeziehern bis zur Verletzung ihrer Grundrechte. Die „Erklärung”, die Tacheles e.V. von Betroffenen zugespielt wurde, ist eine Mischung aus gezielter Falschinformation und perfider Einschüchterung der betroffenen Antragsteller. Wenn das Jobcenter Coburg Antragsteller zur Unterzeichnung dieses Papiers nötigt, weil sonst der Antrag auf Alg II nicht bearbeitet wird, bedeutet das, dass man von der Behörde unter Druck gesetzt wird, auf grundlegende Bürgerrechte zu verzichten.

„Ich wurde heute darauf hingewiesen, dass ich verpflichtet bin, jede Änderung in den Verhältnissen von mir und allen in meinem Haushalt lebenden Personen unverzüglich dem Jobcenter Coburg Land mitzuteilen”


heißt es in dem mit „ERKLÄRUNG” überschriebenen Papier. Auch an anderer Stelle werden Mitwirkungspflichten und Ermittlungsauflagen bis zur Einschränkung verfassungsrechtlich geschützter Bereiche leichtfertig dem allumfassenden Überwachungsbedürfnis der Behörde preisgegeben:

„Mir ist bekannt und ich bin damit einverstanden, dass meine Verhältnisse durch unangemeldete Hausbesuche des Ermittlungsbeamten des JOBCENTERs überprüft werden.”


Im Gesetz sind solche Hausbesuche überhaupt nicht vorgesehen. Das ist dem Coburger Jobcenter offensichtlich bewusst, weil im Text verlangt wird, dass Betroffene sich (gezwungener maßen) „freiwillig” damit einverstanden erklären.

Die schwache Position der Antragsteller manifestiert sich in Aussagen wie dieser:

„Ich ermächtige das JOBCENTER Coburg Land, alle Auskünfte über mich bei anderen Behörden oder Personen einzufordern und Akten/ Unterlagen anzufordern, soweit dies zur Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB II erforderlich ist.”


Es handelt sich hier zum einen um eine unzulässige Ausweitung behördlicher Ermittlungsrechte auf die Einholung von Auskünften bei Dritten. Andererseits ist die im Nebensatz gemachte gesetzliche Einschränkung der Ermächtigung für Laien kaum verständlich, denn diese werden ohne Weiteres nicht in der Lage sein, selbst zu beurteilen, was alles zur Erfüllung der Aufgaben nach dem SGB II erforderlich ist und was nicht. Auch diese Ermächtigung macht nur Sinn, wenn die Behörde über die im Sozialgesetzbuch bereits vorgesehenen vielfältigen Ermittlungsmöglichkeiten hinausgehen will. Dadurch werden der Datenschutz, die ärztliche Schweigepflicht, das Bankgeheimnis und ähnliche Rechte mit einem Satz aufgehoben.

Aber nicht nur die völlig überzogenen, teilweise falsch wiedergegebenen Mitwirkungs- und Nachweispflichten prägen den bedrohenden Charakter des Papiers. Die Ausweitung der Mitwirkung auf nahezu alle Lebensbereiche und die bei Nichterfüllung dieser Auflagen verbundene Bedrohung durch Bußgeld „bis zu 5.000,- EURO” und Strafverfolgung bauen eine Drohkulisse auf, die der generalisierten plumpen Einschüchterung schon bei Antragstellung dient. Diese Entrechtung und Bloßstellung unter dem Deckmantel der Aufklärungspflicht wirkt auf Betroffene entwürdigend. Derart vorpräpariert werden sich Alg II-Antragsteller genau überlegen, ob und wie selbstbewusst sie ihre Interessen und Rechte gegenüber einer scheinbar übermächtigen Behörde durchsetzen. Die Auskunfts- und Aufklärungspflicht der Behörde werden hier offen missbraucht, um durch Abschreckung Leistungsansprüche abzuwehren.

Die „Coburger Erklärung” ist nur ein Musterbeispiel der rechtswidrigen Umsetzung des SGB II und einer Behördenpraxis, die Leistungsberechtigte im großen Stil entwürdigt, entrechtet und unter den Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs stellt. Mangelnde und fehlerhafte Aufklärung über Rechte und Pflichten, überzogene Nachweisforderungen, Verstöße gegen Sozialdatenschutz und grundlegende sozialrechtliche Verfahren aber auch gravierende Personalengpässe und ihre Folgen bestimmen zwei Jahre nach der Hartz IV-Reform noch immer die Tagesordnung in den ARGEn und Jobcentern. Schlimmer noch: es ist offenkundig, dass rechtliche Standards vielerorts bewusst unterschritten werden, um den Druck auf die Leistungsberechtigten zu erhöhen und Rechtsansprüche systematisch zu verwehren. Bei der Coburger Praxis liegen solche Absichten ziemlich nah.

In der nachfolgenden Kritik an dem Formular des Jobcenter Coburg Land zerpflücken Gregor Kochhan und Harald Thomé das Papier und belegen anhand von 20 Einzelpunkten die rechtswidrige Auslegung der Sozialgesetze, mit dem Ziel die Betroffenen einzuschüchtern und ihrer Rechte zu berauben. Mit der Kritik an der „Coburger Erklärung” will Tacheles im konkreten Fall versuchen, eine Änderung der rechtswidrigen Praxis durchzusetzen. Außerdem soll eine breite Diskussion darüber angestoßen werden, was SGB II-Leistungsträger dürfen und was nicht. Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass ähnliche Verpflichtungserklärungen für Alg II-Antragsteller und unzulässige Formulare quer durch die Republik Anwendung finden. Deshalb ist es an der Zeit, sich gegen diese Form der Entrechtung und die Ausbreitung „rechtsarmer” Räume zur Wehr zu setzen.

Der Verein Tacheles fordert e.V. das Jobcenter Coburg Land hiermit auf:

  1. Ab sofort auf die Verwendung der „Coburger Erklärung” zu verzichten.
  2. Alle bisher von Alg II-Antragstellern unterschriebenen Erklärungen von amtswegen für nichtig zu erklären und dies den Betroffenen in jedem Einzelfall schriftlich mitzuteilen.


Tacheles Onlineredaktion
Harald Thomé und Frank Jäger



Hintergrund:

  • Die Coburger Erklärung im Original herunterladen [PNG 174KB]
  • Kritik an der „Coburger Erklärung” von Gregor Kochhan und Harald Thomé


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