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Ein Diskussionsbeitrag zur Protestbewegung: Demos reichen nicht !

http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=59043&IDC=10

Nicht nur demonstrieren, sondern täglich kämpfen
Von Mag Wompel

Montagsdemos in über 200 Städten, zunehmend auch im Westen, ziehen immer
mehr Menschen auf die Straße. Die lang erwartete breite Empörung richtet
sich vor allem gegen Hartz IV, das offensichtlich als i-Tüpfelchen empfunden
wird. So optimistisch die aktuellen Proteste stimmen, sollten dabei meines
Erachtens einige Aspekte nicht aus dem Blick geraten:
1. Hartz IV ist nicht das Ende der Sozialabbaupläne, weshalb sich die
Proteste nicht nur gegen Hartz IV, sondern mindestens gegen alle - teilweise
längst reibungslos umgesetzten - Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 richten
müssen.
2. Reformpakete wie die Agenda 2010 hier zu Lande gibt es in ganz Europa,
weshalb wir uns verstärkt um internationale Vernetzung der sozialen Proteste
bemühen sollten.
3. Wenn wir uns nicht wie der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB mit kleinen
Abmilderungen abfinden wollen, wird der Protest möglichst bald Aktionsformen
erfordern, die über eine Demonstration hinausgehen und den Verursachern der
so genannten Reformpolitik wehtun. Dazu brauchen wir ein möglichst breites
Bündnis.
4. Deshalb ist es bedauerlich, wenn sich die Bewegung der Montagsdemos
einerseits bereits spaltet und andererseits eine eigene Koordinierung
aufbaut, anstatt sich als ein Teil der internationalen Proteste gegen den
Sozialabbau zu begreifen. Die wesentlichere Koordinierung findet am
18./19.9. in Frankfurt/ Main mit der nächsten Aktionskonferenz statt. Sie
soll Auftakt sein für eine Herbstkampagne mit vielfältigen Aktivitäten, u.a.
bundesweiter Demo vor der Bundesarbeitsagentur am 6. und den dezentralen
Aktionstagen um den 17. November herum sowie schließlich der Aktion
"AgenturSchluss" mit Protesten in den örtlichen Agenturen für Arbeit am
3.1.2005. Arbeitsniederlegungen der (noch?) Beschäftigten sind leider nicht
in Sicht, aber dringend erforderlich.

Die bisherige bundesweite Koordinierung hat leider gezeigt, dass
wir noch viel zu lernen haben. Dies gilt für auch hier erlebte Spaltungen
und ungleiche Augenhöhen, für demokratische Formen des Umgangs mit
politischen Unterschieden und dies gilt für die Priorität der Sache vor
persönlichen und parteilichen Profilierungswünschen. Sollen nicht alte
Fehler wiederholt werden, müssen meines Erachtens die zu planenden
Aktivitäten folgenden Kriterien zu genügen:
1. Die Form der Proteste sollte vorrangig den Auf- und Ausbau dezentraler
alltäglicher Widerstandsstrukturen und -bündnisse befördern. Was aktuell
durch die Montags- oder auch Freitagsdemos eher unterstützt wird, als durch
Märsche nach Berlin.
2. Die Protestformen sollten so gewählt sein, dass sie möglichst viele
Personen aus den unterschiedlichsten Betroffenheitskreisen beteiligen und
zur gegenseitigen Unterstützung animieren: Prekäre, Migranten und
Migrantinnen, Erwerbslose und Sozialhilfebezieher, Schüler und Studenten,
Rentner.
3. Deswegen müssen neue Formen des Widerstandes gesucht werden, die auf die
unterschiedlichen Möglichkeiten der Verweigerung und des Protestes, aber
auch auf unterschiedliche Befähigung, Courage und Motivation Rücksicht
nehmen und zugleich Sand ins Getriebe der Hartz-Gesetze streuen.

Wo bleibt der aktive Widerstand der Gewerkschaften?
Denn: Die größten und pressewirksamsten Aktionstage und Demonstrationen
werden nichts nützen, solange im Alltag der Sozialabbau und unsere Spaltung
reibungslos verlaufen - woran sich leider die Gewerkschaften tatkräftig
beteiligen. Statt aktiv bei der Umsetzung der Hartz-Gesetze mitzuwirken (bei
gleichzeitigen verbalen Protesten), sollte gerade ver.di den aktiven
Widerstand gegen die Streichung der Arbeitslosenhilfe organisieren, Seminare
zum Thema »Wie kann ich Hartz unterlaufen?« anbieten und die Beschäftigten
von Arbeits- und Sozialämtern mobilisieren. Nun müssen wir dies übernehmen,
und den bereits jetzt betroffenen Erwerbslosen, Sozialhilfebezieherinnen
und -beziehern oder Zwangs-LeiharbeitnehmerInnen helfen, sich gegen die
täglichen Zumutungen und Entwürdigungen zur Wehr zu setzen.
Eine weitere hemmende Komponente für einen wirkungsvollen, einheitlichen
Widerstand ist die Angst, die sich in der Bevölkerung ausbreitet. Angst, den
Arbeitsplatz zu verlieren oder Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden. Immer
öfter blanke Existenzangst. Diese Angst lähmt und verstärkt die Fixierung
auf die Lohnarbeit. Im Zeitalter des propagierten Endes der
Arbeitsgesellschaft ist Arbeit als Lohnarbeit dominierender denn je. Angst
lähmt aber nicht nur die Handlungsfähigkeit - auch die Fantasie über
zuverlässigere Existenzsicherung als die Lohnarbeit. »Hauptsache Arbeit
haben« sagen und denken immer mehr Menschen, »Arbeit statt Hartz« heißt es auf vielen Montagsdemos. Diese Genügsamkeit ist aber in meinen Augen das wichtigste Hemmnis für eine erfolgreiche Bewegung gegen Sozialabbau und Erpressungen durch das Kapital. Diese Genügsamkeit lässt Widerstand
höchstens gegen die nächste Verschlechterung aufkommen und die letzte - und nicht zuletzt das gesamte System der Verwertungszwänge - als Normalität erscheinen.
Wir müssen nicht nur demonstrieren, sondern alltäglich kämpfen: Nicht für die Binnennachfrage, sondern für alle Menschen, nicht nur gegen Lohn- und Lohnersatzkürzungen, sondern gegen die gesamte Ökonomisierung unseres
Lebens. Ablehnung des Wettbewerbsprinzips, Ablehnung aller Kriege: der militärischen, der Standortkriege und der Kriege gegen vermeintlich nicht verwertbare Menschen, Ablehnung des Zwangs zur Lohnarbeit und der unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Ablehnung des Rassismus und der
Abschottung der EU - das muss faktisch demonstriert werden, wo uns unzumutbares zugemutet wird: am Arbeitsplatz, im Stadtteil, auf dem Arbeits- oder Sozialamt.
Dafür muss in den Bündnissen und ihren Koordinierungen aber auch die Angst überwunden werden, bestehende politische Differenzen über die Ziele der Proteste auszutragen und zu diskutieren. Denn wollen wir uns nicht mit kleinen Abmilderungen des Elends abspeisen lassen, kommen wir nicht umhin, nicht nur Hartz IV, die Agenda oder den Neoliberalismus zu bekämpfen, sondern die Ursache im kapitalistischen System selbst.

Mag Wompel ist Industriesoziologin und freie Journalistin. Sie arbeitet als Redakteurin des LabourNet Germany, dem Treffpunkt der Gewerkschaftslinken
www.labournet.de

(ND 03.09.04)

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