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Historiker K.H. Roth: zur Aktualität des Neofaschismus

Wochenendgespräch

Junge Welt 31.03.2007 / Wochenendbeilage

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»Wir müssen uns allen Ausgegrenzten zuwenden«

Gespräch mit Karl Heinz Roth. Über die Entdeckung der sozialen Frage durch die Neonazis und die Aktualität des Faschismus, über den politischen Aufbruch 1968, Gender-Politik heute und die Notwendigkeit einer neuen linken Kulturrevolution
Gerhard Hanloser
Karl Heinz Roth (geb. 1942) ist Historiker, Sozialforscher und Arzt. Er ist Mitgründer von 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20.und 21. Jahrhunderts, die seit 2003 unter dem Titel Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts erscheint.
In Hinblick auf die Wahlerfolge der NPD in Mecklenburg-Vorpommern erklärte der Rechtsextremismus-Experte Burkhard Schröder, daß es keinen Zusammenhang zwischen der sozia­len Frage und dem Erstarken der Neonaziparteien gebe. Man müsse seines Erachtens davon ausgehen, daß 20 Prozent der Bevölkerung »rassistische und antisemitische Vorurteilsstrukturen« hätten. Die soziale Frage hat mit dem Wahlerfolg der Ultrarechten nichts zu tun, behauptet er.

Das sehe ich vollkommen anders. Der Sozialreport von 2006 über Ostdeutschland sagt ja aus, daß der Rassismus in Ostdeutschland nicht 20 Prozent, sondern 74 Prozent der Bevölkerung erfaßt. Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen den NPD-Optionen in Mecklenburg-Vorpommern und auch bei den Landtagswahlen in Sachsen und der so­zialen Frage. In Sachsen haben 16 Prozent Erwerbslose NPD gewählt, in Mecklenburg-Vorpommern waren es 17 Prozent, In Mecklenburg-Vorpommern haben elf Prozent Arbeiterinnen und Arbeiter die NPD gewählt, das ist ganz klar ein überdurchschnittlicher Teil. Die neuen Selbstständigen, Kleinunternehmer und Menschen in ähnlichen Arbeitslagen rangieren in der ganzen sozialen Hierarchie des Wählerpotentials mit neun Prozent an dritter Stelle. Ganz eindeutig ist die NPD auf dem Weg, die Partei der sogenannten Deregulierungsverlierer zu werden. Sie wird zu einer Partei der Deklassierten, der Ausgegrenzten, Abgestürzten und vom Absturz Bedrohten. Damit besetzt sie ein Terrain, das die postmoderne Linke weitgehend verlassen hat.
Werfen wir einen Blick auf die Parolen der NPD. In welcher Art und Weise wird denn von seiten der Rechtsextremisten die soziale Frage gestellt und beantwortet?

Das beunruhigende ist, daß sich hauptsächlich bei den militanten, aktivistischen Gruppen eine Tendenz durchsetzt, die mit dem Querfront-Faschismus, also mit den Parolen des Strasser-Flügels der frühen dreißiger Jahre sehr eng liiert ist, den sie auch genau studiert haben. Sie sprechen vom »nationalen Sozialismus«, sie sprechen von nationalen sozialpolitischen Integrationsprogrammen und verbinden das gleichzeitig mit ihrer dezidierten Ausländerfeindlichkeit. Der »nationale Sozialismus« soll nur für die Deutschen, für das deutsche Volkstum, da sein. Diese Parolen sind deshalb so gefährlich, weil historische gesehen mit diesen Parolen ein Brückenschlag zu den völkisch-nationalistischen Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung stattgefunden hat. Aus meinen Kontakten mit links-gewerkschaftlichen Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß ein sich formierender Rassismus unter Arbeiterinnen und Arbeitern grassiert, der immer stärker um sich greift. Das ist ein hochaktuelles, brennendes Problem. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen, das hat für uns keine Bedeutung mehr, nur weil es sich in Form des Strasser-Flügels um eine in den Jahren 1933/34 marginalisierte Strömung handelt, deren Durchmarsch damals durch die Option der traditionellen Eliten auf Hitler gestoppt wurde, die auf Hochrüstung und Kriegsvorbereitung setzte.

Die Neofaschisten haben angefangen, die soziale Frage als ein Einfallstor zu entdecken. Das ist ja durchaus neu, die Altnazis hatten damit nichts am Hut. Nun gibt es eine neue Generation bei den »Jungen Nationaldemokraten«, bei den Kameradschaften und den »Freien Nationalisten«. Das sind oft akademisch qualifizierte Leute, die die soziale Frage als Plattform nutzen, während andere Themen durch den institutionellen Rassismus weitgehend besetzt sind. Es gibt also eine Konstellation, die historisch schon einmal existiert hat: der vulgäre Antikapitalismus, die Unterscheidung zwischen »schaffendem« und »raffendem« Kapital. Von der vergleichenden Faschismusforschung ist analysiert worden, wie Menschen, die in einer sozialen Absturzsituation sind, plötzlich anfangen, auf andere zu treten, um ihre eigenen Selbstwertgefühle zu stablisieren, und wie daraus organisatiorische Potentiale geschöpft werden, die dann zu einem strukturierenden Prozeß führen, in dem sich dann die faschistischen Subjekte in ihrer Entwicklung wiederfinden.
Wie definieren Sie Faschismus?

Der Faschismus ist eine gegen-revolutionäre Bewegung der Deklassierten und vom sozialen Absturz Bedrohten aller Klassen, natürlich mit besonderer Schwerpunktsetzung bei den Mittelschichten, aber auch bei den traditionellen Eliten, allerdings auch bei der Arbeiterbewegung. Diese Bewegung ist als gegenrevolutionäre Bewegung am Ende des Ersten Weltkriegs entstanden und hat sich dann konsolidiert. Der deutsche Faschismus unterscheidet sich dann vom italienischen und spanischen in der extremen Gewalttätigkeit, dem extremen Rassenantisemitismus, der negativ und positiv besetzten Volkstumsideologie und vor allem durch seine übergreifende Funktion vor allem für die traditionellen Eliten, auf Hochrüstung und Vorbereitung zu einem Krieg zu setzen. Der Faschismus ist im Kern von seiner sozialen Basis ausgehend eine Strategie des Revisionskrieges gewesen.

Die klassische marxistische Faschismusanalyse hat in Hinblick auf den Charakter des Faschismus als Bewegung der Deklassierten aller Klassen sehr weitgehende Defizite gehabt, die nun durch die Ergebnisse unserer Forschung überwunden sind.
Ist Faschismus ein Epochenbegriff? Ist der Faschismus damit nicht vorbei?

Es gibt eine zyklische Rekonstruktion des Faschismus, es gab im Verlauf des Zweiten Weltkrieges eine Ausbreitung des Faschismus, auch in Übersee, nicht nur in Japan, auch nach Lateinamerika, in den Nahen Osten. Das heißt, die emigrierten faschistischen Führungsschichten, die aus Europa fliehen konnten, haben sich dort etablieren können.

Eine neue internationale Dimension des Faschismus ist aber eigentlich erst in den 1980er Jahren neu entstanden. Er hat überall als hyper-nationalistische Bewegung spezifische Ausprägungen. Schauen wir nach Osteuropa und Südosteuropa. In Polen haben wir eine extrem klerikalfaschistische Entwickung, die auf eine Art von neuem Pilsudski-Regime hinsteuert, in Rumänien haben wir einen ganz starke neofaschistische Tendenz, die am Militärdiktator Antonescu ansetzt und die gleichzeitig hofft, daß wegen der speziellen Beziehungen Antonescus zu Hitler-Deutschland, Rumänien im Rahmen der EU wieder eine besondere Option für die Deutschen wird. Das sind komplizierte Gemengelagen. Die soziale Basis dieser faschistischen Bewegungen haben auf jeden Fall eine überraschende Tendenz zur Homogenität. Es sind immer soziale Katastrophen und Absturzprozesse, es ist die Individualisierung und Vereinzelung der Menschen im Verarmungsprozeß, die sie zur Suche nach einem neuen Gemeinschaftserlebnis führt, das sie in ihrer gesellschaftlichen Alltäglichkeit nicht mehr haben. Das ist ausserordentlich gefährliche.
Inwiefern ist hierzulande die Linkspartei.PDS in der Lage, die Schicht der Deregulierungsverlierer an sich zu binden?

Im Augenblick besteht das Dilemma darin, daß jede reformorientierte Sozialstaatsperspekive zerstört ist, daß es überhaupt keine sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Anbindungsmöglichkeit für die sozialistische Linke mehr gibt. Auch die Linkspartei findet mehr oder weniger zu einer postmodernen Struktur, in der sie nur noch ihre eigenen Klientel bedient und die sozial immer massiver Ausgegrenzten überhaupt nicht mehr als ihre Basis betrachtet – man schaue nur nach Berlin ...

Die Situation ist gefährlich, weil es für die sozialen Absteigerinnen und Absteiger zum ganz großen Teil überhaupt keine linke Option mehr gibt. Das ist eine neue Situation, die keineswegs nur auf Deutschland begrenzt ist. Anfang der 90er Jahre hat in Frankreich die sozialistische Partei unter François Mitterand die Arbeiterklasse verlassen, und Le Pen und der Front Nationale hat in einem zehnjährigen Prozeß die Arbeiterquartiere besetzt. Heute können wir sehen, daß die Immigranten der zweiten Generation, deren Eltern noch die Kerngruppe der Résistance gegen die Hitler-Okkupation ausmachte, Le Pen wählen. Das ist die Lage.
Immigranten als Neonazis? In welcher Form hat sich der Neofaschismus globalisiert?

Seit den 80er und 90er Jahren erleben wir den Faschismus als ein globales Phänomen. Der globale Faschismus ist heute vor allem in den religiösen Fundamentalismen verankert, beispielsweise im Dschihad-Islamismus, im Erez-Israel-Siedlerkolonialismus, im christlichen Fundamentalismus der amerikanischen Westküste und im hinduistischen Nationalismus mit seinen Pogromen gegen die Muslime. Das sind natürlich ganz gewaltige Unterschiede zur Situation in den 30er Jahren. Generell würde ich sagen, daß der entscheidende Unterschied zum historischen Kontext die viel längere Dauer der sozialen Deregulierungs- und Abstiegsprozesse ist. Die Weltwirtschaftskrise von 1930 bis 1933 war ein ganz dramatischer Zusammenbuch der sozialen und kulturellen Verhältnisse, das alles hat sich im Verlaufe der 80er Jahre ganz langsam und strukturelle aufgebaut.
Ist es zulässig, islamistische Strömungen als faschistisch zu bezeichnen? Und welche Schwierigkeiten ergeben sich für sozialrevolutionäre Linke, einen Bezug beispielsweise zu den französischen Vorstadtrevolten herzustellen? In den neuen Migrantengenerationen mischt sich ja oft das Aufbegehren gegen die westlich-kolonialistische Mehrheitsgesellschaft mit reaktionären Vorstellungen.

So wie man einen transnationalen Ansatz braucht, brauch man auch einen transkulturellen Ansatz. Ich habe mit vielen Streetworkern zum Beispiel aus den hiesigen Vorstädten gesprochen, die erzählen, daß die Ausländerjugendlichen der dritten Generation mit rechter Hiphop- und Pop-Musik hantieren, in die auch Goebbels- oder Hitler-Reden eingespielt sind. Wir müssen außerordentlich präzise hinschauen und argumentieren. Wenn ich von Dschihad-Islamismus spreche, dann meine ich eine sehr spezifische Strömungen des Islamismus, die eine ganz präzise definitorische Affinität zum Neofaschismus haben: In ihrer extremen Gewalttätigkeit, in ihrer terroristischen Dimension, in ihrem extremen Patriarchalismus – damit meine ich den wahaabitischen Islamismus, der ja nicht zuletzt von den US-Amerikanern als Kampfmittel gegen die sowjetische Politik in Afghanistan großgezogen wurde und sich nun gegen die USA selbst wendet.

Es gibt ganz andere Tendenzen in den verschiedenen Religionen, die damit gar nichts zu tun haben. Mit Schwarz-Weiß-Perspektiven kommt man nicht weiter. Viele islamische Bewegungen sind beispielsweise auch Sozialbewegungen, die sich ganz klar von neofaschischen Strukturen unterscheiden.
Was wären nun Gegenstrategien, um die soziale Frage wieder von links zu besetzen? Sie kommen selbst aus der bundesrepublikanischen neuen Linken von 1968. Die heutige postmoderne Linke hat in der Tat das Terrain des Sozialen verlassen. Was hat sich am Eklatantesten verändert zwischen damals und heute?

Die entscheidende Veränderung sehe ich daran, daß wir heute fast keine Linke mehr haben. Und damit meine ich eine sozialistische Linke, die sich an den Ausgebeuteten, den Erniedrigten und Beleidigten orientiert. 1967/68 war die Konstellation eine ganz andere. Ich erinnere mich an die Massendemonstrationen in Hamburg, als es zu der Diskussion kam, was wir nur mit den Rockern machen sollen, die aus den Trabantenghettos plötzlich auf die Demonstrationen kamen. Der Reformflügel, also die sozialdemokratischen Hochschulbund-Leute, haben die Parole ausgegeben: Rocker raus. Wir haben die Gegenparole »Rocker rein« ausgegeben. Gesetzt haben wir also auf die Integration dieser ghettoisierten Arbeiterjugendlichen, was auch funktioniert hat. Wir konnten in diese Ghettos, die neuen Trabantenstädte der 60er Jahre hineingehen, konnten soziale Bezugsorte aufbauen, wir richteten Wohngemeinschaften ein und teilten mit den Rockern den Alltag, am Billardtisch und in der Kneipe. Wir konnten sie damit zu uns herüberziehen. Genau das ist auch der große schwarze Fleck in der neuesten Forschung über 1968 – wo immer über die akademisch Qualifizierten, die Studierenden geredet wird. Vergessen wird, daß es 1967/68 eine ganz tiefe sozialrevolutionäre Jugendbewegung gab, die auch die Arbeiterjugendlichen erreicht hat, die auch über diese Mobilisierungen eine neue radikale Gewerkschaftsjugendbewegung gestartet haben. Verglichen mit heute gerät dies schnell zu einem nostalgischen Bild. Ich will aber überhaupt nicht in Nostalgie schwelgen, auch damals gab es riesige Probleme. Aber ein gewaltiger Unterschied zu heute ist, daß es nun keinen fundierten Diskussionsprozeß mehr gibt, der sich ganz entschieden auf die soziale Wirklichkeit, auf die Ausgebeuteten, Erniedrigten und Beleidigten, auf die Hartz IV-Empfänger bezieht. Auch meine Diskussionsangebote der vergangenen Jahre wurden nicht breiter aufgegriffen, die Zug fährt in eine andere Richtung.

Was man heute brauchen würde, ist eine uneingeschränkte, universalistische Rückkehr zum neuen Proletariat, nicht nur zum Prekariat, sondern zur Gesamtheit der Ausgebeuteten. Wir müßten uns unter Umständen auch auf diejenigen beziehen, die uns gar nicht so sympatisch sind. Die selektive Beschäftigung mit Gender-Politik oder Ausländerfragen bleibt unter dem Niveau des dringen nötigen Universalismus. Unsere Botschaft muß an alle Ausgebeuteten adressiert sein. Das setzt eine richtige Kulturrevolution in der Politik der Linken und in der Gewerkschaftspolitik voraus. Wir müßten die Kulturszene wieder besetzen. Wir haben keine Ton Steine Scherben mehr, wir haben keinen Walter Mossmann mehr. In den Liedern der beiden Genannten kulminierte die ganze Geschichte und das ganze Begehren des Aufbruchs der 70er Jahre.

Alle von uns können sehr konkret, wenn sie sich die Gefahr, die sich vor uns aufbaut, vergegenwärtigen, Schritte einleiten, um einen Konsolidierungsprozeß in Gang zu setzt, der uns wieder befähigt, an die Orte zu gehen, wo die Neofaschisten marschieren – und sie marschieren in den sozialen Brennpunkten. Wir sind jedoch nicht dort.

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