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Kinderarmut steigt mit ALG II um fast 50 Prozent

Süddeutsche Zeitung 21.04.2004 17:03 Uhr

Kinderarmut steigt um fast 50 Prozent

Fachtagung warnt vor dramatischen Auswirkungen durch die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe.
Von Sven Loerzer


Im nächsten Jahr wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, sprunghaft ansteigen. Der Sozialforscher und Verfasser der Münchner Armutsberichte, Rolf Romaus, rechnet mit einem Plus von 45 Prozent. Nach dem letzten Armutsbericht lebten etwa 11300 Kinder und Jugendliche in der Landeshauptstadt von Sozialhilfe. Vom 1. Januar an wären dann durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe rund 16500 Kinder mit ihren Eltern auf das neue Arbeitslosengeld II (Alg II) angewiesen.

Gerade für Familien mit Kindern, aber auch für Alleinerziehende in München bedeutet dies, dass ihr Budget – wie die SZ bereits berichtet hat – nicht mehr das bisherige Sozialhilfeniveau erreicht. Nach einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld steht künftig der jähe Absturz in die Armut bevor.

Bei einer vom Kreisjugendring veranstalteten Fachtagung zu Armut und ihren Folgen bei Kindern und Jugendlichen lenkte Romaus den Blick auf diese Auswirkungen, die bislang fast nur in Fachkreisen wahrgenommen wurden: In der Bundesrepublik werde die Zahl der in Einkommensarmut lebenden Kinder von bisher etwa einer Million auf 1,5 Millionen steigen.

Mit dem neuen Alg II (345 Euro zuzüglich Miete und Heizung in den alten Bundesländern) erhalte eine vierköpfige Münchner Familie dann knapp 82 Euro weniger im Monat als bisher mit Sozialhilfe. Die Belastung durch die Gesundheitsreform schmälere das Familienbudget pro Kopf um etwa 80 Euro pro Jahr. „Die gesellschaftliche Spaltung in reiche Kinderarme und arme Kinderreiche wird künftig noch mehr zutreffen“, zog Romaus ein bitteres Fazit.

Zuvor hatten Gerhard Beisenherz vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) und der Soziologe Wolfgang Ludwig-Mayerhofer von der Universität Siegen anschaulich beschrieben, was Armut für die Entwicklung der Kinder bedeuten kann. In einkommensarmen Familien streiten die Kinder häufiger mit der Mutter – sogar um Essen und Trinken, berichtete Beisenherz von einer noch laufenden Untersuchung zu den Lebensbedingungen von Kindern. „Ich nerve meine Mutter, bis ich Erfolg habe“ – diese Strategie verfolgen Kinder der untersten Armutsgruppe am häufigsten. „Nachgeben ist nicht angesagt“, erklärte Beisenherz, „konfrontatives Verhalten nimmt zu.“

Mit steigendem sozialem Status träfen sich Kinder mit weniger, aber festeren Freunden, während Kinder mit niedrigerem Status eher den Kontakt zu größeren Gruppen suchen und Freundschaften häufiger abbrechen. Das informelle Lernen im Austausch mit Freunden aber, so Beisenherz, spiele neben dem formellen Lernen in der Schule für die Bildung eine wichtige Rolle.

Studien aus den USA zeigten, dass Armut bei Kindern im Vorschulalter noch 15 Jahre später an deren schulischen Leistungen und dem Schulerfolg spürbar sei, betonte Ludwig-Mayerhofer. Die Schulen dürften nicht nur als „Wissens-Trichter“ verstanden werden, sondern müssten durch Investitionen – etwa in mehr Schulsozialpädagogik – als Förder- und Lebensraum gestaltet werden. „Arme Kinder sind viel stärker von infrastrukturellen Angeboten, Treffpunkten mit anregendem Charakter, abhängig“, sagte Beisenherz und warnte die Politiker vor einer Vernachlässigung dieser Angebote.

Doch die interessierten sich nicht für die Tagung: Es war keiner gekommen. Dabei müssten bei ihnen, so fasste Moderator Klaus Honigschnabel die Gefühle vieler KJR-Mitarbeiter zusammen, „angesichts der Auswirkungen der Armut die Alarmglocken schrillen“.

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