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Rechtsprechungsticker von Tacheles 40 KW / 2009

1. BSG, Urteil vom 19.5.2009, - B 8 SO 7/08 R -

Sozialhilfe - Vermögenseinsatz - Zweifamilienhaus - Angemessenheit des Hausgrundstücks - lebenslanges Wohnrecht - Verwertbarkeit

Stellt der Leistungsträger für Sozialhilfe fest, dass ein Hilfebedürftiger mit seiner fünfköpfigen Familie in einem zu großen Haus lebt(219 qm Wohnfläche und Hausgrundstück mit 888 qm), so kann sie nicht pauschal verlangen, dass das Anwesen verkauft wird.

1. Nach § 11 Abs 1 BSHG ist die Hilfe zum Lebensunterhalt dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Dabei sind bei nicht getrennt lebenden Ehegatten das Einkommen und das Vermögen beider Ehegatten zu berücksichtigen (§ 11 Abs 1 Satz 2 BSHG) . Hierzu enthalten die §§ 76 ff BSHG konkretisierende Vorschriften.

2. Nach § 88 Abs 2 Nr 7 BSHG darf die Sozialhilfe nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung eines angemessenen Hausgrundstücks, das vom Hilfesuchenden oder einer anderen in den §§ 11, 28 genannten Personen allein oder zusammen mit Angehörigen ganz oder teilweise bewohnt wird und nach seinem Tod bewohnt werden soll. Die Angemessenheit bestimmt sich nach der Zahl der Bewohner, dem Wohnbedarf (zB Behinderter, Blinder oder Pflegebedürftiger), der Grundstücksgröße, der Hausgröße, dem Zuschnitt und der Ausstattung des Wohngebäudes sowie dem Wert des Grundstücks einschließlich des Wohngebäudes. Nach § 88 Abs 3 BSHG darf die Sozialhilfe ferner nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen hat, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde.

Bei seiner Entscheidung hat sich das LSG indes ausschließlich mit der Wohnraum- und des Grundstücksgröße befasst. Damit hat es nicht auf alle im Gesetz genannten Angemessenheitsfaktoren im Sinne der vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entwickelten Kombinationstheorie (BVerwGE 59, 294, 301 f; 87, 278, 282 f; 89, 241, 243; 90, 252, 254 f) rekurriert und bei der Frage der Verwertbarkeit nicht hinreichend das dingliche Wohnungsrecht der Eltern der Klägerin und die sonstigen vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Klägerin und ihren Eltern ermittelt und berücksichtigt. Dies wird es bei seiner erneuten Entscheidung nachzuholen haben.

3. Zur Prüfung der Angemessenheit des Hausgrundstücks iS des § 88 Abs 2 Nr 7 Satz 1 und 2 BSHG schließt sich der Senat der überzeugenden Rechtsprechung des BVerwG im Sinne der Kombinationstheorie (s oben) an. Danach ist die Angemessenheit nach Maßgabe und Würdigung aller in § 88 Abs 2 Nr 7 BSHG bezeichneten personen-, sach- und wertbezogenen Kriterien zu beurteilen; soweit ein einzelnes Kriterium unangemessen ist, führt dies also nicht automatisch zur Unangemessenheit des Hausgrundstücks. Insoweit ist nicht ausschlaggebend, dass das LSG den Faktor Hausgröße richtig bewertet hat.

4. Ausgehend vom Alleineigentum der Klägerin (vgl zur Notwendigkeit, auf die Eigentumsverhältnisse abzustellen: BVerwGE 90, 252 ff; Brühl/Geiger in Lehr- und Praxiskommentar SGB XII <LPK-SGB XII>, 8. Aufl 2008, § 90 SGB XII RdNr 43) ist die Angemessenheit für sechs Personen (Kläger und deren Kinder, zusätzlich die Eltern der Klägerin ) zu bestimmen Schon nach Wortlaut und Systematik der Regelungen ist also nicht nur auf die Größe der Wohnung im Erdgeschoss abzustellen. Andererseits sind die Eltern der Klägerin Angehörige iS des § 16 Abs 5 Nr 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>), an dem sich die Auslegung des Begriffs des Angehörigen orientieren kann (vgl dazu in anderem Zusammenhang BSGE 91, 221 ff = SozR 4-4300 § 147 Nr 1, jeweils RdNr 16). Die fünf Personen (Kläger zu 1, Kinder, Eltern) sollen auch nach dem Tod der Klägerin das Haus bewohnen.

Soweit es die Beurteilung der angemessenen Hausgröße als solche betrifft, schließt sich der Senat - auch aus Gründen der Harmonisierung (zur Notwendigkeit Coseriu in Bender/Eicher, Sozialrecht - eine Terra incognita, 2009, 225, 255 f) den überzeugenden Ausführungen der für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Sozialgesetzbuch Zweites Buch <SGB II>) zuständigen Senate des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 12 Abs 3 Satz 1 Nr 4 SGB II an (vgl: BSGE 97, 203 ff RdNr 21 = SozR 4-4200 § 12 Nr 3; BSGE 98, 243 ff RdNr 22 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7; Urteil vom 19.9.2008 - B 14 AS 54/07 R - RdNr 16 ) . Danach ist die angemessene Größe eines selbst genutzten Hausgrundstücks nach den Vorgaben des Zweiten Wohnungsbaugesetzes mit einem Grenzwert von 130 qm für einen Vier-Personen-Haushalt zu bestimmen, der sich für jede weitere Person um 20 qm erhöht. Vorliegend ergibt sich auf diese Weise ein angemessener Wohnraum von 170 qm. Zwar bedürfen diese Größen je nach Umständen des Einzelfalles einer Anpassung nach oben (BSGE 97, 203 ff = SozR 4-4200 § 12 Nr 3, jeweils RdNr 22; Knickrehm in Bender/Eicher, Sozialrecht - eine Terra incognita, 2009, 193, 217) . Umstände des Einzelfalls sind indes nicht ersichtlich . Die angemessene Größe von sechs Personen ist schließlich auch dann noch überschritten, wenn man mit den für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senaten des BSG bei einer Überschreitung der Wohnflächenobergrenze um nicht mehr als 10 vH mit Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch von einer angemessenen Wohnfläche ausgeht (BSGE 97, 203 ff = SozR 4-4200 § 12 Nr 3, jeweils RdNr 23) .

Ob andererseits die Größe des Hausgrundstücks unangemessen ist, kann ohne weitere tatsächliche Feststellungen bzw Ermittlungen nicht beurteilt werden. Insoweit sind die in der Praxis angewandten Grenzwerte von 500 qm für ein freistehendes Haus (vgl etwa Brühl/Geiger in LPK-SGB XII, § 90 SGB XII RdNr 51) bzw für den ländlichen Raum (Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl 2008, § 90 SGB XII RdNr 35) allenfalls Anhaltspunkte, die überschritten werden können, wenn sich die Größe des betroffenen Hausgrundstücks im Rahmen der örtlichen Gegebenheiten hält (vgl zu diesen Kriterien BVerwGE 87, 278, 282 f) . Dies wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen der erforderlichen Individualisierung (§ 3 BSHG) ebenso zu berücksichtigen haben wie die Anzahl der das Hausgrundstück nutzenden Personen. Ob das Hausgrundstück andererseits bei entsprechender Größe teilbar ist, ist keine Frage der Angemessenheit der Größe des Hausgrundstücks, sondern erst der Verwertbarkeit eines unangemessenen Hausgrundstücks (vgl dazu BSGE 100, 186 ff = SozR 4-4200 § 12 Nr 10, jeweils RdNr 29) .

5. Die Verwertbarkeit des Hausgrundstücks wird das LSG genauer unter rechtlichen und tatsächlichen Aspekten (BSGE 100, 131 ff = SozR 4-3500 § 90 Nr 3, jeweils RdNr 15) zu prüfen haben; Fragen der Zumutbarkeit der Verwertung sind erst bei der Prüfung des Härtefalls zu berücksichtigen. Insbesondere sind die Vereinbarungen der Klägerin zu 2 mit ihren Eltern zu beachten. Immerhin besteht eine Pflegepflicht gegenüber den Eltern, die durchaus an das gemeinsame Wohnen in dem Haus gebunden sein könnte. Zwar würde dies eine Verwertung im Sinne einer Beleihung rechtlich nicht verhindern; jedoch bedürfte es insoweit einer genaueren Eruierung, ob die Immobilie überhaupt bei der vorhandenen dinglichen Belastung mit dem Wohnungsrecht und der finanziellen Situation der Kläger realisierbar ist. Dass zugunsten des Sozialhilfeträgers eine Höchstbetragshypothek eingetragen worden ist, ist kein Beleg dafür, dass private Kreditinstitute bereit gewesen wären, den Klägern Geld zur Verfügung zu stellen. Gerade die dingliche Belastung des Hausgrundstücks bietet außerdem Anlass, die faktische Verwertbarkeit durch Verkauf nicht einfach zu unterstellen. Entscheidungserheblich ist ggf auch, ob sich die Möglichkeit einer Verwertung in einem zeitlich vorhersehbaren Rahmen bewegt (BSG, aaO, RdNr 15 und 18) . Selbst wenn die Rechtsprechung des BSG zu § 12 Abs 1 SGB II (BSGE 99, 248 ff = SozR 4-4200 § 12 Nr 6) nicht ohne weiteres übernommen werden kann, weil das SGB II normativ davon ausgeht, dass erwerbsfähige Hilfebedürftige innerhalb angemessener Zeit wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden und ihnen deshalb Vermögenswerte unter Umständen eher belassen werden müssen als auf Dauer Erwerbsunfähigen (vgl zu diesem Ansatz BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 14 RdNr 15 f; Coseriu in Bender/Eicher, Sozialrecht - eine Terra incognita, 2009, 225, 255 f) , ist vorliegend doch zu beachten, ob die (1968 bzw 1969 geborenen) Kläger ab 1.1.2005 nicht dem System des SGB II unterworfen waren, sodass die Wertungen des SGB II für die Gewährung von Sozialhilfe nach dem BSHG in den letzten Monaten vor Inkrafttreten des SGB II Vorwirkungen zeitigen müssen (s zu diesem Rechtsgedanken in anderem Zusammenhang BSGE 94, 121 ff = SozR 4-4300 § 193 Nr 3, jeweils RdNr 21) .

Wäre eine Verwertung des Hausgrundstücks im vorbezeichneten Sinne rechtlich und tatsächlich möglich, bliebe immer noch zu prüfen, ob die zulässige Verwertungsvariante eine Härte bedeuten würde, dies vor allem wiederum im Hinblick auf die von der Klägerin übernommene Verpflichtung zur Pflege ihrer Eltern. Die Härtefallregelung erfasst nämlich atypische Fälle, bei denen auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls der Vermögensansatz die Betroffenen ganz oder jedenfalls teilweise unbillig belasten und den im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Leitvorstellungen des Gesetzgebers nicht gerecht würde (BVerwGE 23, 149 ff; näher dazu Sartorius in Rothkegel, Sozialhilfe, 2005, Teil III Kap 14 RdNr 68 ff) . Ein Härtefall kann auch im Sozialhilferecht unter wirtschaftlichen Aspekten vorliegen (BSGE 100, 131 ff = SozR 4-3500 § 90 Nr 3, jeweils RdNr 25) .

http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=en&Datum=2009-5&nr=11157&pos=6&anz=37

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