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Stellungnahme von BIAJ: Bundesminister Wolfgang Clements Erinnerungslücken und die Migrantenfamilien

Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe (BIAJ)
Knochenhauerstraße 20-25
28195 Bremen
Tel. 0421/302380
Fax 0421/302382
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Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und Sozialhilfe:
Bundesminister Wolfgang Clements Erinnerungslücken und die Migrantenfamilien

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor dem Hintergrund der aktuellen Berichterstattung über die Zahl der Sozialhilfeempfänger/innen und die Zahl der Sozialhilfeempfänger/innen, die seit dem 1. Januar 2005 Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld gemäß dem SGB II (Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende) erhalten, erscheint es uns angeraten, sich noch einmal das sog. Mengengerüst anzusehen, daß u.a. auch dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) und dem verantwortlichen Bundesminister Wolfgang Clement (SPD) vorlag und diesem als Grundlage für die Kalkulation des Mittelbedarfs für die vom Bund zu finanzierenden SGB II-Leistungen diente. Zu diesen Leistungen gehören insbesondere das Arbeitslosengeld II (ohne die Leistungen für Unterkunft und Heizung), das Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Angehörige in Bedarfsgemeinschaften mit zumindest einem/einer Alg II-Empfänger/in (ebenfalls ohne Leistungen für Unterkunft und Heizung) und die Eingliederungsleistungen (ohne die in § 16 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB II genannten) und die Verwaltungskosten (ohne die Verwaltungskosten, die im Zusammenhang mit den Leistungen für Unterkunft und Heizung entstehen).

Das Mengengerüst wurde im Auftrag des BMWA vom IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit) erstellt und Mitte Mai 2004 vorgelegt. Die Berechnungen erfolgten "in Übereinstimmung mit den Annahmen des Arbeitskreises Quantifizierung (AKQ)" der Arbeitsgruppe "Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe" der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen. Im Rahmen der Berechnung des Mengengerüstes wurde vom Statistischen Landesamt Sachsen auf Basis der Sozialhilfestatistik 2002 "nach Programmieranweisung des IAB" ermittelt, wie viele Sozialhilfeempänger/innen nach Inkrafttreten des SGB II in die "Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung" gewechselt sein werden und wie viele Sozialhilfeempänger/innen in der Sozialhilfe (SGB XII; ehemals BSHG) verbleiben.

Die nach Auffassung des BMWA zu niedrige Zahl der in der Sozialhilfe verbliebenen, oder anders, die nach Auffassung des BMWA zu hohe Zahl von Sozialhilfeemfänger/innen, die in das Arbeitslosengeld II bzw. das Sozialgeld wechselten, scheint den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, verwirrt zu haben. Er kann sich offensichtlich weder an die in seinem Auftrag ermittelten Zahlen erinnern noch an den Paragraphen 8 im "Sondergesetzbuch für erwerbsfähige Hilfebedürftige und deren nicht erwerbsfähige Angehörige" (SGB II). In diesem Paragraphen ist die "Erwerbsfähigkeit" (nicht "Arbeitsfähigkeit" und auch nicht "Arbeitslosigkeit") geregelt.

Am Rande I: Die Antragsteller/innen müssen im "Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)" unter der Überschrift "Umfang der Erwerbsfähigkeit" die Frage beantworten: "Können Sie - Ihrer Einschätzung nach - mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachgehen?" und diese mit "ja" oder "nein, weil ..." beantworten. (Nur wenn alle Angehörigen einer Bedarfsgemeinschaft dies mit "nein, weil ..." beantworten, erhält diese Bedarfsgemeinschaft keine Leistungen nach dem SGB II.)

Nur schwer zu ertragen ist es, wenn der verantwortliche Bundesminister in diesem Zusammenhang von sich gibt: "Zur Wahrheit gehört auch: In nicht wenigen Migrantenfamilien war die Frau niemals in einem Job und wird auch nie einen Job aufnehmen." (Financial Times Deutschland, 22.02.2005; "Clement beklagt Unfairness der Kommunen") Wie stellt sich Wolfgang Clement denn das Ausfüllen eines Antrages in einer "Migrantenfamilie" vor? Der Mann füllt die Spalte 1 aus, die "Persönlichen Verhältnisse des Antragstellers", und beantwortet die Frage nach dem "Umfang der Erwerbsfähigkeit" mit "ja". Und natürlich füllt der Mann auch die Spalte 2 aus, die "Persönlichen Verhältnisse der Partnerin des Antragstellers", und beantwortet die Frage nach dem "Umfang der Erwerbsfähigkeit" mit "nein, weil ..." - und was dann? "Ich, der Antragsteller, will es nicht."? Oder: "die Frau gehört in den Haushalt (und kann dort nur bis zu 24 Stunden täglich arbeiten)."? Oder aber: "Gemäß § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Und: Ich, der Antragsteller, erlaube es nicht."?

Am Rande II: Wie viele Ausländer/innen sind eigentlich wegen § 8 Abs. 2 SGB II "nicht erwerbsfähig" im Sinne des SGB II, konnten deshalb nicht in das SGB II wechseln und müssen von den Kommunen finanziert werden?

Zurück zum anliegenden Mengengerüst: Danach wurde erwartet, daß in Ostdeutschland 32.795 Sozialhilfeempänger/innen im Alter von 0 bis unter 65 Jahren "weiter in Sozialhilfe" bleiben (Seite 1) und in Westdeutschland 151.743. Im Land Bremen z.B. sollten dies lediglich 3.800 sein, davon 2.940 in der Stadt Bremen und 860 in der Stadt Bremerhaven. Dies sind in jedem Fall deutlich weniger als 10 Prozent der Sozialhilfeempfänger/innen, und zwar auch dann, wenn man die Sozialhilfeempfänger/innen im Alter von 65 Jahren und älter (die Ende 2002 noch Sozialhilfe erhielten, inzwischen aber in die "Grundsicherung für Ältere" gewechselt sind) unberücksichtigt läßt.

Am Rande III: Das anliegende Mengengerüst zeigt übrigens auch, daß die Zahl von Alg II-Empfänger/innen - 4,302 Millionen im Februar 2005, von denen 2,641 Millionen als Arbeitslose gezählt wurden - u.a. aus folgendem Grund höher ist als vom IAB im Mai 2004 prognostiziert: Es wurde unterstellt, daß 30,9% der Arbeitslosenhilfeempfänger/innen (nicht Sozialhilfeempfänger/innen) in Ostdeutschland und 17,5% in Westdeutschland "wegen fehlender Bedürftigkeit" kein Arbeitslosengeld II erhalten. (siehe Kasten links oben in den Mengengerüsten) Daß die Geschäftspolitik der BA (Fördervorrang für "teure Arbeitslose"; geringere Förderung als veranschlagt) und die Förderpolitik bzw. die zunehmende "Nichtförderpolitik" der Kommunen einen Beitrag zum Anstieg der Zahl der Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger/innen beigetragen haben, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Nicht unerwähnt bleiben soll auch: Das IAB hat bereits im September 2004 darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der Arbeitslosengeld II-Empfänger/innen deutlich höher sein wird als noch im Mai 2004 berechnet. Im IAB-Kurzbericht heißt es dazu u.a.: "Insbesondere beim Start von ALG II ist also mit Risiken zu rechnen: Die Ausgangsbelastung Anfang 2005 wird sich gegenüber den bisherigen Erwartungen erhöhen." (IAB Kurzbericht Nr. 11/23.09.2004; S. 1) Es wurden 5,97 Millionen "Personen, die im 1. Quartal 2004 Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gehabt hätten" prognostiziert, davon 4,22 Millionen im Alter von 15 bis unter 65 Jahren und 1,75 Millionen Kinder. Von der Bundesagentur für Arbeit (BA) wird die Zahl der in "SGB II-Bedarfsgemeinschaften" lebenden Personen im Februar 2005 übrigens mit 5,84 Millionen (vorläufig; z.T. geschätzt) angegeben.
Wir hoffen auf Ihr Interesse und Berücksichtigung bei Ihrer Arbeit.

Mit freundlichen Grüßen

Paul M. Schröder
Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung
und Jugendberufshilfe (BIAJ)

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