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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 03/2022
1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ( SGB II )
1.1 LSG Hessen, Beschluss v. 29.07.2021 - L 6 AS 209/21 B ER
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht - Unionsbürgerfreizügigkeit - Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger - Aufenthaltsrecht als nahestehende Person - Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU 2004 aF iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004 - Familiennachzug zu Deutschen - Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bis zur Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit
Leitsatz
1. Eine Antragstellerin kann als nicht eheliche Partnerin eines Arbeitnehmers kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige aus § 3 FreizügG/EU ableiten, da der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU abschließend geregelt ist.
2. Ein Aufenthaltsrecht nach § 3a Abs. 1 Nr. 3 FreizügG/EU als nahestehende Person besteht nicht, weil die Rechtsposition der nahestehenden Personen erst infolge der individuell-konkreten Zulassungsentscheidung entsteht und ein solcher Titel bisher nicht erteilt wurde.
3. Es besteht kein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz, wonach die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge unter weiteren Voraussetzungen zu erteilen ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen schon deshalb nicht vor, da die minderjährigen Kinder der Antragstellerin nicht deutsche, sondern bulgarische Staatsangehörigkeit sind.
4. Derzeit ist mangels Verlustfeststellung von einem rechtmäßigen Aufenthalt der Antragstellerin in Deutschland auszugehen. Da § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a SGB II wie § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausdrücklich an die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit, sondern nur an das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts anknüpft, lässt der Wortlaut der Regelung für sich genommen erst recht nicht darauf schließen, dass der Leistungsausschluss vor Bestandskraft der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit gelten soll (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Februar 2020 – 1 BvL 1/20 –, Rn. 12, juris zu § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII).
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/169736
1.2 LSG Hessen, Urt. v. 09.06.2021 - L 6 AS 89/20
Leitsatz
1. Zur Einbeziehung wiederholter Ablehnungsentscheidungen in ein sozialgerichtliches Verfahren.
2. Zur Unzulässigkeit der hilfsweisen subjektiven Klagehäufung auch bei einer Verbindung der Kläger durch das Rechtsinstitut der Bedarfsgemeinschaft.
3. Zum Fehlen eines gewöhnlichen Inlandsaufenthalts und einer Haushaltsgemeinschaft bei langjährigem Internatsaufenthalt im Ausland trotz regelmäßiger Besuche bei der Familie insbesondere in den Ferien.
Quelle: https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE210001385
1.3 LSG Hessen, Urt. v. 04.08.2021 - L 6 AS 268/19
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Verwirkung des Erstattungsanspruchs des Grundsicherungsträgers aufgrund jahrelanger Untätigkeit - vorläufige Leistungsbewilligung nach altem Recht - Beginn und Ablauf der Jahresfrist für die Endgültigkeitsfiktion
Jahrelange Untätigkeit des Jobcenters begründet ein schutzwürdiges Vertrauen der Kläger nach Verzicht auf ALG 2 ( Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V. )
Leitsatz
Die jahrelange Untätigkeit der Behörde nach einem erklärten Leistungsverzicht kann zur Verwirkung einer endgültigen belastenden Festsetzung und eines Erstattungsanspruchs führen.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/169835
2.2Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende ( SGB II )
2.1 SG Karlsruhe, Beschluss vom 16.12.2021, S 12 AS 872/21
Zur sozialgerichtlichen Vertretungsbefugnis von „Streitgenossen“ und „Menschenrechtlern“
Leitsätze
Um Kläger und Bevollmächtigten als „Streitgenossen“ im Sinne des § 73 Abs. 2 Satz 2 Ziff. 2 SGG anzusehen, genügt nicht, dass beide gegen ein Jobcenter Rechtsstreitigkeiten führen, wenn ihre jeweiligen Rechtsstreitigkeiten nicht auch zueinander in einem hinreichend engen inhaltlichen Zusammenhang stehen.
Empfänger existenzsichernder Leistungen sind selbst nach über zwanzig Jahren sozialgerichtlicher Prozessführungserfahrung als Vielkläger in eigener Sache nicht mit den vor Sozialgerichten nach § 73 Abs. 2 Satz 1 SGG vertretungsbefugten Personen gleichzustellen, welche über die formale Befähigung zum Richteramt oder eine vergleichbare Qualifikation verfügen müssen.
2.2 SG Karlsruhe, Beschluss vom 25.08.2021 – S 12 AS 2211/21 ER
Zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II - Zur Frage, ob eine Einstehensgemeinschaft vorliegt, hier aber verneinend
Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Es liegt gerade nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit, dass ehemalige Partner innerhalb derselben Wohnung getrennt leben.
2. Umgekehrt stellt § BGB § 1567 Abs. BGB § 1567 Absatz 1 Satz 2 BGB ausdrücklich klar, dass ein Getrenntleben innerhalb derselben Wohnung auch nach dem Ende einer Partnerschaft für einen längeren Zeitraum erfolgen kann. Den Luxus doppelter Haushaltsführung können sich getrennt lebende Eltern aus unteren Einkommensschichten oft gar nicht leisten.
3. Grundsicherungsempfänger beziehen ihre existenzsichernden Leistungen in aller Regel nicht aus Bequemlichkeit, sondern, weil sie aus individuellen und gesellschaftlichen Gründen keinen gleichen Zugang zu den Lebenschancen haben, welche der - insofern privilegierte und in Teilen ignorante - Großteil der Bevölkerung für selbstverständlich hält (SG Karlsruhe, Beschluss vom 24. März 2021 - S 12 AS 711/21 ER ).
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )
3.1 LSG Hessen, Urt. v. 19.03.2021 - L 7 AL 31/20
Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Aufgabe der Nahtlosigkeitsregelung ist es nicht, einen nahtlosen Leistungsbezug bis zum Abschluss eines rentenrechtlichen Verfahrens sicherzustellen.
Orientierungshilfe:
1. Auch der Sinn und Zweck des § 145 SGB III erfordere keine zeitlich unbegrenzte Nahtlosigkeitsregelung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rentenverfahrens (vgl. SG Karlsruhe 22. April 2013 - S 11 AL 3545/12). Durch die Nahtlosigkeitsregelung solle verhindert werden, dass ein dauernd leistungsgeminderter Arbeitsloser von der Beklagten als nicht verfügbar und vom Rentenversicherungsträger als nicht erwerbsgemindert mit der Folge angesehen werde, dass beide Träger für denselben Zeitraum Leistungen versagen. Die Vorschrift diene damit dem Schutz des Arbeitslosen vor divergierenden Entscheidungen der beiden Träger. Aufgabe der Nahtlosigkeitsregelung sei es aber nicht, einen nahtlosen Leistungsbezug bis zum Abschluss eines rentenrechtlichen Verfahrens sicherzustellen (vgl. Landessozialgericht Berlin, Urteil vom 12. Juni 2003 - L 14 AL 2/01; SG Karlsruhe, Urteil vom 22. April 2013 - S 11 AL 3545/12).
2. Seine Funktion und Wirkungsweise bestehe nicht darin, dass Arbeitslosengeld nach Erschöpfung des Krankengelds als eine Art Anschlusskrankengeld bedingungslos fortgewährt werde. Allein ein Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente bzw. medizinische Rehabilitation beim Rentenversicherungsträger genüge nicht, um fortan ohne jede Prüfung der objektiven Verfügbarkeit Arbeitslosengeld bis zum endgültigen und rechtskräftigen Abschluss eines rentenrechtlichen Verfahrens zu beziehen (vgl. LSG Bayern, Urteil vom 15. Dezember 2011 - L 9 AL 66/09).
Quelle: https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE210001186
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
4.1 LSG Hessen, Urt. v. 25.11.2019 - L 4 SO 135/18
Bewilligung eines Mehrbedarfs für die Zeit vor Ausstellung des entsprechenden Schwerbehindertenausweises
Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Die Gewährung eines pauschalierten Mehrbedarfs wegen Zuerkennung des Merkzeichens "G" ist nach der ab 7.12.2006 geltenden Rechtslage frühestens mit dem Zeitpunkt der bescheidmäßigen Feststellung des Merkzeichens durch das Versorgungsamt möglich.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/169800
Rechtstipp Redakteur von Tacheles e. V. : vgl. vgl. BSG Urteil vom 25.04.2018, B 8 SO 25/16 R; BSG, Beschluss vom 17.01.2019 - Aktenzeichen B 8 SO 72/18 B
5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
5.1 Sozialgericht Nordhausen – Beschluss vom 17.12.2021 – Az.: S 15 AY 824/21 ER
Normen: § 1a Abs. 4 AsylbLG, § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG – Schlagworte: Leistungskürzung nach § 1a Abs. 4 AsylbLG, verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich § 1a AsylbLG, Sozialgericht Nordhausen
Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Die Rechtmäßigkeit der Leistungskürzungen gemäß § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG kann aufgrund erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken sowohl gegen die Kürzungsregelungen als auch zur Bemessung der Regelsätze nicht abschließend festgestellt werden (vgl. SG Landshut, Beschluss vom 24. Oktober 2019 — S 11 AY 64/19 ER -; SG Hannover, Beschluss vom 20. Dezember 2019 — S 53 AY 107/19 ER -; SG Freiburg Beschluss vom 20. Januar 2020 — S 7 AY 5235/19 ER).
2. Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der hier maßgeblichen Regelungen des AsylbLG (vgl. u.a.: LSG NRW, Beschluss vom 27. März 2020 — L 20 AY 20/20 B ER —, juris; LSG Niedersachsen, Beschluss vom 19. November 2019 – L 8 AY 26/19 B ER — mwN jeweils mit weiteren Nachweisen). Dies gilt zunächst hinsichtlich der Kürzungsregelung im § 1a Abs. 4 AsylbLG.
3. Mit seinem Vorlagebeschluss vom 26. Januar 2021 hat darüber hinaus das LSG Niedersachsen-Bremen auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen für Asylbewerber selbst dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Januar 2021 — L 8 AY 21/19 —, juris). Auch wenn dieser Vorlagebeschluss die für das Jahr 2018 festgesetzten Geldbeträge betrifft, wird mit dem Vorlagebeschluss eine Vielzahl von u.a. methodischen Bedenken geltend gemacht, die auch für die gegenwärtig geltende Fassung von zentraler Deutung sind.
4. Auch aufgrund des Vorlagebeschlusses des SG Düsseldorf (SG Düsseldorf, Vorlagebeschluss vom 13. April 2021 — S 17 AY 21/20 —, juris) wird sich das Bundesverfassungsgericht im Vorfahren 1 BvL 3/21 mit dem Leistungssystem des AsylbLG befassen müssen.
Weiter bei RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/2022/01/10/sozialgericht-nordhausen-beschluss-vom-17-12-2021-az-s-15-ay-824-21-er/
6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen
6.1 Anmerkung zu: BSG 14. Senat, Urteil vom 21.07.2021 - B 14 AS 29/20 R
Autor: Dietrich Hengelhaupt, Direktor SG a.D.
Absetzung des erhöhten Grundfreibetrages gemäß § 11b Abs. 2 Satz 3 i.V.m. § 3 Nr. 26 EStG bei nicht ehrenamtlicher Tätigkeit
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Der erhöhte Grundfreibetrag gemäß § 11b Abs. 2 Satz 3 SGB II i.V.m. § 3 Nr. 26 EStG kann auch dann in Anspruch genommen werden, wenn die nebenamtliche Tätigkeit kein spezifisch ehrenamtliches Gepräge aufweist.
2. Es kommt nicht darauf an, ob sie zu Erwerbszwecken oder in der Erwartung einer finanziellen Gegenleistung im Sinne einer Erwerbsabsicht oder zur Verfolgung ideeller Zwecke unentgeltlich ausgeübt wird oder ob finanzielle Zuwendungen nur in Form von Aufwendungsersatz konkrete oder pauschal berechnete Aufwände abdecken.
6.2 Pressemitteilung: SG Hildesheim entscheidet über KdU
Das Sozialgericht Hildesheim entscheidet derzeit über zahlreiche Klagen von Beziehern der Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), in denen diese sich gegen die Deckelung der Kosten der Unterkunft (KdU) wehren. Das Jobcenter Hildesheim wendet ein vom Landkreis Hildesheim für die Berechnung der KdU entwickeltes Konzept an, welches bisher in einer Vielzahl von Klageverfahren vom SG Hildesheim und auch in Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen (z.B.: Urteil vom 28. September 2021, L 11 AS 370/18) als nicht schlüssig angesehen wird.
Das derzeit angewandte „schlüssige Konzept“ spiegelt die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt nicht wider, weil die Validität der Datenerhebung nicht vorhanden ist und diese daher auch insgesamt nicht mehr als repräsentativ angesehen werden kann. Stattdessen wendet die Fachgerichtbarkeit bis hin zum BSG die Wohngeldtabelle zzgl. eines 10 %-igen Zuschlages an.
Mehr als 100 Urteile sind inzwischen rechtskräftig.
6.3 Erreichen des Regelrentenalters schließt Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz nicht aus
Ein schwerbehinderter Mensch kann im Rahmen der Zuständigkeit des Integrationsamts für begleitende Hilfen im Arbeitsleben die Übernahme der Kosten für eine notwendige Arbeitsassistenz auch nach Erreichen des Regelrentenalters beanspruchen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit gestrigem Urteil entschieden.
6.4 Kindergrundsicherung für alle! von Claudius Voigt
Es darf keine Kinder erster und zweiter Klasse geben, fordert Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V. (GGUA) Münster.
6.5 Sozialrechtliche Informationen Januar 2022
Thema der Januar-Ausgabe von SOZIALRECHT-JUSTAMENT sind Probleme der Bedarfsdeckung im Falle »temporärer Bedarfsgemeinschaften« im SGB II.
Weiter: https://sozialrecht-justament.de/data/documents/SJ-1-2022.pdf
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock