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Jahresarchiv

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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 05/2023

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

1.1 LSG Hamburg, Urt. v. 29.09.2022 - L 4 AS 342/20

Persönliche Erreichbarkeit des Antragstellers zu Leistungen des SGB 2 durch das Jobcenter als Voraussetzung dessen Anspruchs auf Leistungen der Grundsicherung

Orientierungssatz


Die Gewährung von Leistungen des SGB 2 setzt nach § 7 Abs. 4a SGB 2 die Erreichbarkeit des Antragstellers voraus. Der Leistungsberechtigte muss sich im Nahbereich des Grundsicherungsträgers aufhalten und diesen ohne unzumutbaren Aufwand erreichen können. Das Jobcenter muss ihn persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift durch Briefpost erreichen können.(Rn.29)

Quelle: https://www.landesrecht-hamburg.de/bsha/document/JURE220036814

 

1.2 LSG NRW, Urt. v. 08.11.2022 - L 2 AS 804/21 - Revision zugelassen

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Absetzbeträge - mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben – Ausbildungskosten

Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Ausbildungskosten für eine im Zusammenhang mit einer praktischen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung durchzuführende Weiterbildung vom Einkommen nach § 11b Abs. 1 Nr. 5 SGB II abzusetzen sind, hier bejahend

Ausbildungskosten sind als mit der Einkommenserzielung verbundene notwendige Ausgaben zu berücksichtigen.

Leitsatz ( Redakteur v. Tacheles e. V. )

1. Ausbildungskosten sind vom Einkommen absetzbar.

2. Die für die Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten zu zahlenden Gebühren in Höhe von monatlich 450,00 Euro sind als mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben nach § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II vom Einkommen abzusetzen. Auch bei diesen Ausbildungskosten handelt es sich um notwendige Ausgaben im Sinne der Vorschrift (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.02.2014 – L 12 AS 4836/12 - ).

Orientierungshilfe ( Redakteur )

1. Notwendige Ausgaben im Sinne des § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB II sind nur solche, die gerade durch die Erzielung des jeweiligen Einkommens kausal verursacht sind (vgl. BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 4 AS 1/20 R). Auch Weiterbildungs- und Fortbildungskosten können solche notwendige Ausgaben sein, wenn sie bei wirtschaftlicher Betrachtung mit der Erzielung des Einkommens in der Weise verbunden sind, das zwischen der Fortbildungsmaßnahme und der ausgeübten Erwerbstätigkeit ein objektiver Zusammenhang besteht und die Kosten für die Fortbildungsmaßnahme sich bei vernünftiger Wirtschaftsführung dem Grunde und der Höhe nach als notwendig erweisen (vgl. Meißner, jurisPR-SozR 15/2020 Anm. 1 zu BSG, Urteil vom 19.03.2020 – B 4 AS 1/20 R mwN und Hinweis auf die fachlichen Weisungen der BA zu §§ 11-11b Rn. 11.139).

2. Maßgeblich für die Frage der Notwendigkeit der Ausbildungskosten ist dabei die Verknüpfung mit der während und im Rahmen der Ausbildung erfolgten Tätigkeit und dem daraus erzielten Einkommen (LSG Hamburg, Urteil vom 04.02.2015 – L 4 AS 394/13). Insbesondere dann, wenn ansonsten die Erzielung der Einkünfte für die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit gefährdet wäre, kommt eine Berücksichtigung der Kosten für eine Ausbildung in Betracht (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.06.2019 – L 29 AS 625/18).

3. Dies ist hinsichtlich der vom Kläger zu zahlenden Ausbildungskosten in Höhe von monatlich 450,00 Euro der Fall. Die Zahlung dieser Ausbildungskosten ist kausal mit der Erzielung der Einkünfte aus der praktischen Tätigkeit in Höhe von 1000,00 Euro brutto verknüpft, weil der Kläger diese praktische Tätigkeit, die nach dem Ausbildungsvertrag mit dem LVR-Klinikum im ersten Ausbildungsjahr durchschnittlich 26 Stunden wöchentlich umfasst, nicht unabhängig von der Ausbildung ausüben kann.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172809

 

1.3 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 30.08.2022 - L 15 AS 106/20

Bremer Unterkunftskosten für Hartz-IV-Empfänger teilweise zu hoch


Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass die Bewilligung der Kosten der Unterkunft in Bremen im Zeitraum Oktober 2017 bis September 2018 nicht auf einer Grundlage erfolgt ist, die den höchstrichterlichen Anforderungen an ein sog. schlüssiges Konzept zur Erhebung des Mietwohnungsmarktes genügt. Dies hat in Bremen teilweise zur Übernahme von tendenziell zu hohen Kosten geführt. Mit „Kosten der Unterkunft“ sind jene Beträge gemeint, die Empfänger von sog. Hartz IV-Leistungen zur Sicherung ihrer Wohnbedarfe (zzgl. zu den Heizkosten) erhalten.

Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:

Quelle: Presseinfo LSG NSB v. 23.01.2023 ( mit Volltext Urt. ): https://landessozialgericht.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/pressemitteilungen/bremer-unterkunftskosten-fur-hartz-iv-empfanger-teilweise-zu-hoch-218880.html

 

1.4 LSG Thüringen, Urt. v. 08.09.2022 - L 9 AS 812/21

Leitsätze

1. Die bloße Bezeichnung als „vorläufige Entscheidung“ ohne weitere Erläuterung, insbesondere zur möglichen Erstattungsfolge, reicht in der Regel nicht aus, um einem Bewilligungsbescheid den Charakter einer endgültigen Regelung zu nehmen.

2. Geht die Behörde irrig davon aus, sie habe einen vorläufigen Verwaltungsakt nach § 41a SGB II erlassen, während es sich tatsächlich um einen endgültigen Verwaltungsakt handelte, darf später ein als abschließende Entscheidung nach § 41a Abs. 3 SGB II verlautbarter Bescheid mit Erstattungsforderung nicht in einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid nach §§ 45ff. SGB X umgedeutet werden, denn es fehlt an dem Willen der Behörde, die eingetretene Bindungswirkung zu beseitigen.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172816

 

1.5 LSG Thüringen, Beschluss v. 24.11.2022 - L 1 SF 342/21 B DS

Leitsätze

§ 67d SGB X, § 78 SGB X, § 35 Abs. 2 SGB I

Sozialdatenschutz, Vorrang der den Sozialdatenschutz regelnden Normen, originäre Übermittlungsbefugnis


1. Die den Sozialdatenschutz regelnden Normen gehen als andere Rechtsvorschriften des Bundes über den Datenschutz den Vorschriften des BDSG (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BDSG) und auch landesrechtlichen Datenschutzvorschriften vor (§ 35 Abs. 2 SGB I).

2. Die Vorschrift des § 78 Abs. 1 S. 6 SGB X räumt den Gerichten eine originäre Übermittlungsbefugnis ein.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172821

 

 

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

2.1 SG Nordhausen, Urt. v. 13.10.2020 - S 13 AS 388/20

Leitsätze


1. Eine Verpflichtung des Jobcenters zur Direktzahlung von Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 7 SGB II kann im Wege einer Klage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG festgestellt werden.

2. § 22 Abs. 7 SGB II gilt auch für Zahlungen, die Immobilieneigentümer an Dritte zu leisten haben, und ist damit nicht auf Mieter beschränkt.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172782

 

 

2.2 SG Bremen, Urt. v. 13.12.2022 - S 26 AS 1279/18

Prognoseentscheidung nach § 22 Abs. 2 SGB II bei selbst bewohntem Eigenheim

Angemessene Kosten der Unterkunft - Prognose - Instandhaltung und Reparatur - Selbstbewohntes Eigenheim - Hilfebefürftigkeit - Mieteinnahmen - Untervermietung - Fälligkeitsmonat

Leitsatz


1. Eine Prognoseentscheidung nach § 22 Abs. 2 SGB II ist nicht mehr vorzunehmen, wenn zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung der maßgebliche Prognosezeitraum bereits abgelaufen ist (Anschluss an LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 8. Oktober 2020 - L 5 AS 742/16). Es sind sodann die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen.

2. Aufwendungen nach § 22 Abs. 2 SGB II sind auch dann anzuerkennen, wenn nicht zu erwarten ist, dass über den gesamten Zeitraum (Antragsmonat sowie den darauffolgenden elf Kalendermonaten) existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II bezogen werden.

Quelle: https://www.sozialgericht-bremen.de/gerichtsentscheidung-en/s-26-as-1279-18-prognoseentscheidung-nach-22-abs-2-sgb-ii-bei-selbst-bewohntem-eigenheim-15430?asl=bremen86.c.14912.de

 

 

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

3.1 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.11.2022 - L 8 AL 664/22

Leitsätze


Zur Aufhebung von Kurzarbeitergeld (Kug) in der Coronapandemie. Auch und gerade bei einem lang andauernden Bezug von Kug (hier: 1 Jahr), sind kalendermonatlich neue Angaben des Arbeitgebers über das Fortbestehen (u.a.) der persönlichen Voraussetzungen für Kug unerlässlich. Die fehlerhafte Annahme eines Arbeitgebers, bei den monatlich zu stellenden Folgeanträgen komme es nur auf die Verhältnisse zu Beginn des Kug-Bezugs an, ist grob fahrlässig und entschuldigt nicht unvollständige und fehlerhafte Angaben im Verlauf (hier betreffend den Kündigungsstatus einer Beschäftigten).

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172789

 

 

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )

4.1 Sächsisches LSG, Beschluss v. 16.01.2023 - L 8 SO 46/22 B ER

Leitsätze


1. Auch bei einer Intensivpflegewohngemeinschaft handelt es sich um eine ambulant betreute Wohnform im Sinne des § 98 Abs. 5 SGB XII.

2. Der betreute Mensch soll so weit wie möglich befähigt werden, alle wichtigen Alltagsverrichtungen in seinem Wohnbereich selbständig vornehmen zu können, sich im Wohnbereich zu orientieren oder dies zumindest mit sporadischer Unterstützung Dritter erreichen zu können.

3. Neben den Leistungen zur Teilhabe kann nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers auch die Gewährung ambulanter Leistungen der Hilfe zur Pflege einen Leistungsfall des "betreuten Wohnens" im Sinne des § 98 Abs. 5 SGB XII darstellen, weil die Sicherung der Selbstbestimmung im eigenen Wohn- und Lebensbereich damit einhergeht.

4. Die außerklinische Intensivpflege ist normativ als ambulante Betreuung anzusehen

Bemerkung

Intensivpflegewohngemeinschaft als ambulant betreute Wohnform im Sinne des § 98 Abs. 5 SGB XII

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172811

 

 

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Kindergeld

5.1 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.09.2022 - L 4 KG 2/20 - Revision zugelassen

Leitsätze


1. Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG hat ein Kind nicht schon dann, wenn es weiß, dass sich „irgendwo auf der Welt“ zumindest ein Elternteil aufhält, mit dem es in sporadischem Kontakt steht.

2. Zum Anspruch einer deutschen Halbwaisen auf Kindergeld für sich selbst, deren in Asien lebender Vater sich ihr über viele Jahre hinweg entzogen hat.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172806

 

5.2 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.09.2022 - L 4 KG 1/20 - Revision zugelassen

Leitsätze


1. Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG hat ein Kind nicht schon dann, wenn es weiß, dass sich „irgendwo auf der Welt“ zumindest ein Elternteil aufhält, mit dem es in sporadischem Kontakt steht.

2. In sozialer Hinsicht steht ein Kind schon dann einer Vollwaisen gleich, wenn es nicht weiß, wo sich zumindest ein Elternteil regelmäßig aufhält, etwa, weil der Aufenthalt des Elternteils – z.B. während einer Flucht oder bei bürgerkriegsbedingtem häufigem Ortswechsel – absehbar nur vorübergehenden Charakter hat.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/172807

 

 

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 20.12.2022 – Az.: L 4 AY 28/22 B ER und L 4 AY 29/22 B

Normen: § 1a Abs. 3 AsylbLG, § 3 AsylbLG, § 2 AsylbLG – Schlagworte: Anhörung zu Verstoß gegen ausländerrechtliche Mitwirkungspflichten, Regelbedarfsstufe 1, Hessisches Landessozialgericht

Wenn Behörde per § 1a AsylbLG auf Bett-Brot-Seife-Leistungen absenken will, muss zwingend zu einem konkreten Mitwirkungsverstoß angehört werden
LSG Hessen, vom 20.12.2022, L 4 AY 28/22 B ER u L 4 AY 29/22 B

Wichtig, denn viele SG sehen Anhörung als entbehrliches lästiges Dingens ( RA Volker Gerloff )

Quelle: RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/2023/01/03/hessisches-landessozialgericht-beschluss-vom-20-12-2022-az-l-4-ay-28-22-b-er-und-l-4-ay-29-22-b/

 

 

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 LSG NRW: Pandemiefolgen sind bei Sperrzeit zu berücksichtigen

Wird eine abhängige Beschäftigung zwecks Wiederaufnahme einer pandemiebedingt aufgegebenen Selbstständigkeit gekündigt, liegt ein Härtefall vor.

Quelle: https://www.haufe.de/sozialwesen/sgb-recht-kommunal/pandemiefolgen-sind-bei-sperrzeit-zu-beruecksichtigen_238_585858.html

 

Hinweis Redakteur:

LSG NRW, Beschluss v. 01.09.2022 - L 9 AL 106/22 B ER

Selbstständigkeit - Pandemie - Feststellung einer Sperrzeit 12 Wochen - besondere Härte iSd § 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 b) SGB III mit der Folge einer Verkürzung der Sperrzeit auf sechs Wochen

Zur Frage, ob eine 12 wöchige Sperrzeit rechtswidrig ist, wenn eine erfolgreiche und bedarfsdeckende Selbständigkeit wegen der Corona-Pandemie und den mit dieser zusammenhängenden Kontaktbeschränkungen vorübergehend aufgegeben werden musste, der Betroffene eine Zwischenbeschäftigung gesucht hat, und nunmehr – nach weitgehendem Wegfall der Beschränkungen – die zuvor ausgeübte selbständige Tätigkeit wieder aufnehmen will, hier bejahend

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.

1. Der Senat hält es für mindestens unverhältnismäßig hart, den Versuch eines vor der coronabedingten Schließung seines Geschäfts erfolgreich selbständig Tätigen, diese Tätigkeit wieder aufzunehmen, mit der Regelsperrzeit von zwölf Wochen zu sanktionieren, wenn – wie hier – ein berechtigter Grund zu der Annahme vorlag, dass die selbständige Tätigkeit wieder aufgenommen werden kann. Eine Reduzierung der Sperrzeit auf sechs Wochen führt zu einem Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Quelle: Tacheles Rechtsprechungsticker KW 49/2022

 

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

 

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