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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 11/2025
1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem SGB II- Bürgergeld und zum Kurzarbeitergeld
1.1 BSG, Urteil vom 12.03.2025 - B 7 AS 5/24 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Auszubildende - schulische Ausbildung - Rückausnahme - Entscheidung des Amts für Ausbildungsförderung
BSG: Leistungsausschluss für Auszubildende – Bürgergeld Zuschuss - nur bis zur 1. Ablehnung des Bafög Amtes
Orientierungssatz Detlef Brock
1. Nur solange über den BAföG-Antrag noch nicht entschieden wurde, gibt es einen Anspruch auf Bürgergeld als Zuschuss.
2. Die Rückausnahmevorschrift des § 7 Absatz 6 Nummer 2b SGB II greift nur bis zur ersten Entscheidung des Bafög - Amtes.
3. Eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss kommt nur in Betracht, wenn Auszubildende BAföG beantragt haben und das zuständige Amt für Ausbildungsförderung über deren Antrag noch nicht entschieden hat.
Das BSG betont: Keine Verlängerung der Frist des § 7 Absatz 6 Nummer 2b SGB II über den Zeitpunkt der ersten Entscheidung des Amtes für Ausbildungsförderung hinaus.
Danach ist der zuschussweise Bezug von Bürgergeld für Personen in einer förderungsfähigen Ausbildung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen vorgesehen.
4. Ein die Ausbildungsförderung ergänzender zuschussweiser Leistungsanspruch kommt allerdings im Wesentlichen nur dann in Betracht, wenn Leistungen nach dem BAföG tatsächlich bezogen werden.
Der Zeitraum des Aufschubs nach § 7 Absatz 6 Nummer 2b SGB II stellt insoweit eine Rückausnahme zur Rückausnahme dar, führt im Ergebnis also wieder zum ursprünglichen Leistungsausschluss.
5. Die zuschussweise Bürgergeld - Erbringung in der Zeit bis zur ersten Entscheidung des Amtes für Ausbildungsförderung hat überbrückenden Charakter.
Denn die Systematik des § 7 Absatz 5 Satz 1 in Verbindung mit § 7 Absatz 6 Nummer 2b SGB II geht von einem Leistungsausschluss aus, wenn eine abstrakt förderungsfähige Ausbildung absolviert wird.
Die Rückausnahme bezweckt in diesem Zusammenhang allein das Abfedern von - Notlagen im Schnittstellenbereich zwischen BAföG und der Grundsicherung für Arbeitsuchende/ Bürgergeld.
6. Die Voraussetzungen für eine Vorlage wegen des Ausschlusses Auszubildender von Leistungen nach dem SGB II nach der ersten ablehnenden Entscheidung des Amtes für Ausbildungsförderung über den BAföG-Anspruch an das Bundesverfassungsgericht zur konkreten Normkontrolle nach Artikel 100 GG liegen nicht vor.
Quelle:https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2025/2025_03_12_B_07_AS_05_24_R.html
Praxistipp
Achtung Urheberrechtsschutz – Zitieren nur mit Nennung der Quelle: Tacheles Rechtsprechungsticker KW 11/2025 - Anmerkung vom Prozessbevollmächtigter im Verfahren - B 7 AS 5/24 R – RA Joachim Schaller
BSG Urteil– Besprechung mit Rechtsanwalt Joachim Schaller, Hamburg ( Rechtsanwalt Joachim Schaller - Prozessbevollmächtigter im Verfahren B 7 AS 5/24 R)
Nach § 7 Absatz 6 Nr. 2 SGB II haben Auszubildende in schulischen Ausbildungen unabhängig davon, ob sie bei den Eltern oder anderswo wohnen (§ 12 und § 13 Abs. 1 Nr. 1 BAföG) und Studierende an Höheren Fachschulen, Akademien und Hochschulen, die bei den Eltern oder in einer Wohnung, die im Eigentum der Eltern steht, wohnen (§ 13 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 und 3a BAföG), Anspruch auf (aufstockende) Leistungen nach dem SGB II, wenn sie Leistungen nach dem BAföG
a) erhalten oder nur wegen der Vorschriften zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht erhalten oder
b) beantragt haben und über deren Antrag das zuständige Amt für Ausbildungsförderung noch nicht entschieden hat; lehnt das zuständige Amt für Ausbildungsförderung die Leistungen ab, findet der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II mit Beginn des folgenden Monats Anwendung.
Das BSG hat am 12.03.2025 im Verfahren B 7 AS 5/24 R zu § 7 Abs. 6 Nr. 2 b) SGB II entschieden, dass Rechtsmittel gegen die BAföG-Ablehnung nicht dazu führen, dass der Beginn des SGB II-Leistungsausschlusses durch Rechtsmittel hinausgezögert wird.
Eine Auszubildende, die eine schulische Ausbildung als Ergotherapeutin absolvierte, für die ihr BAföG-Antrag wegen Nichtvorliegens eines unabweisbaren Grundes für den Abbruch eines zuvor 5 Semester lang absolvierten Studiums abgelehnt worden war und die gegen diese BAföG-Ablehnung Widerspruch erhoben hatte, hatte damit beim BSG (wie zuvor beim LSG Hamburg und anders als beim SG Hamburg) keinen Erfolg.
Nur solange über den BAföG-Antrag noch nicht entschieden wurde, gibt es einen Anspruch auf Bürgergeld als Zuschuss.
Das BSG sieht es auch keinen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG darin, dass Auszubildende in betrieblichen Ausbildungen, für die eine Ausbildungsvergütung gezahlt wird, seit dem 01.08.2016 (außer in den Fällen des § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II) keinem Leistungsausschluss unterliegen, Auszubildende in schulischen Ausbildungen, für die (inzwischen) teilweise auch Ausbildungsvergütungen gezahlt werden (z.B. in der Pflege und Ausbildungen zu anderen Gesundheits- und Sozialberufen), aber grundsätzlich dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II unterliegen.
Hinweis:
Das LSG Berlin-Brandenburg bejaht bei einer BAföG-Ablehnung eine besondere Härte nach § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II bis zum Abschluss eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Verwaltungsgericht um Leistungen nach dem BAföG und sprach im Eilverfahren 80 % als Darlehen zu (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2020 - L 31 AS 585/20 B ER - juris Rn. 3ff = ASR 2020, S. 189).
Im Zweifel ist es daher zur Vermeidung eines Ausbildungsabbruchs ratsam, sowohl gegen die BAföG-Ablehnung vorzugehen als auch gegen das Jobcenter, um zumindest darlehensweise Leistungen für Regelbedarfe, den Mehrbedarf nach § 21 Abs. 7 SGB II, Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Bedarfe für Bildung und Teilhabe und notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu bekommen. Ein entsprechendes Härtefalldarlehen ist erst nach Abschluss der Ausbildung fällig.
Über die Rückzahlung des ausstehenden Betrags soll eine Vereinbarung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Darlehensnehmer getroffen werden (§ 42a Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 Satz 2 SGB II).
Rechtsanwalt Joachim Schaller (Prozessbevollmächtigter im Verfahren B 7 AS 5/24 R)
Anmerkung Detlef Brock: Mein Dank gilt noch mal RA J. Schaller, der meiner Bitte auf Urteilsbesprechung sofort nach kam – Danke sehr
1.2 BSG, Urt. v. 12.03.2025 - B 11 AL 1/24 R -
BSG: Auch ausländische Fluggesellschaften können Kurzarbeitergeld beanspruchen
Orientierungssatz Detlef Brock
Denn Heimatbasen sind ausreichender inländischer Anknüpfungspunkt für die Begründung eines Anspruchs auf Kurzarbeitergeld. Bei diesen handelt es sich um Betriebsabteilungen, die nach § 97 Satz 2 SGB III ebenfalls als Betrieb gelten.
Quelle:https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2025/2025_03_12_B_11_AL_01_24_R.html
Praxistipp ebenso
BSG, Urt. v. 12.03.2025 - B 11 AL 5/24 R
Ein ausländisches Unternehmen kann für seinen im Inland dauerhaft beschäftigten
Arbeitnehmer, der ausschließlich Dienstleistungen erbringt und der Sozialversicherungspflicht in Deutschland unterliegt, Kurzarbeitergeld beanspruchen, auch wenn sich der Sitz, die Leitung und wesentliche technische Einrichtungen des Unternehmens im Ausland ( Italien ) befinden.
Wie der Senat am heutigen Tag in der Sache B 11 AL 1/24 R bereits befunden hat, ist von einer Betriebsabteilung auszugehen, wenn es sich um eine im Grundsatz personell und organisatorisch vom Gesamtbetrieb abgegrenzte Einheit handelt, die in der Regel einen eigenen Betriebszweck verfolgt und mit eigenen Betriebsmitteln ausgestattet ist. Eine solche liegt hier vor.
Quelle: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2025/2025_03_12_B_11_AL_05_24_R.html
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 19.02.2025 - L 2 AS 3159/24 – www.landesrecht-bw.de
Bürgergeld: Keine Verfristung des Widerspruchs bei Zeugenbeweis
Orientierungssatz Detlef Brock
1. Die Widerspruchsbehörde des Jobcenters ist zu Unrecht von einer Verfristung des Widerspruchs ausgegangen, wenn der Bezieher von Bürgergeld anhand von Zeugen den Einwurf seines Briefes in den Haus-Briefkasten des Jobcenters glaubhaft machen kann.
2. Hier ist das Gericht aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers und der Vernehmung der Zeugin und des Zeugen zu der Überzeugung gelangt, dass die rechtzeitige Einlegung des Widerspruchs beim Jobcenter nachgewiesen ist.
3. Entgegen der Auffassung des Grundsicherungsträgers /Jobcenter kommt dem Eingangsstempel des Jobcenters kein unerschütterlicher Beweiswert zu, weshalb der Senat nicht gehindert war, die Anhörung des Klägers in Verbindung mit den Zeugeneinvernahmen als mit dem im vorliegenden Fall höheren Beweiswert zu würdigen.
4. Es steht schon nicht zweifelsfrei fest, dass der angebrachte Eingangsstempel auf dem Widerspruchsschreiben des Klägers (ein Handzeichen eines Mitarbeiters des Jobcenters ist auf dem Stempelaufdruck nicht erkennbar) tatsächlich Auskunft darüber gibt, wann das Schriftstück eingegangen ist und damit, ob er überhaupt die Anforderungen an eine öffentliche Urkunde erfüllt.
5. Die vom Jobcenter angewandte Verfahrensweise erbringt daher nicht in jedem Fall den Nachweis für den Zeitpunkt des Eingangs, sondern ist in diesem Fall unrichtig (vgl. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.2005 - 7 K 318/02 -).
Hinweis: Urteilsaufarbeitung durch Detlef Brock hier: https://www.gegen-hartz.de/urteile/buergergeld-keine-verfristung-des-widerspruchs-durch-zeugenbeweis
Praxistipp
Keine Verpflichtung des Jobcenters, auf den an den Leistungsbezieher gerichteten bloßen Anschreiben sowohl den Poststempel als auch das Ausdruckdatum zu vermerken ( LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 01.07.2024 - L 3 AS 848/24 - ).
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
3.1 SG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 28.01.2025 - S 19 AS 2254/24 -
Leitsatz SG Hamburg
1. Zur Prüfungspflicht des Jobcenters von „nachgereichten“ Unterlagen nach einer Nullfestsetzung.
2. Im sozialgerichtlichen Verfahren findet eine „Kontrolle“ der streitigen Einzelfragen hinsichtlich der Leistungsgewährung der Behörde statt, aber keine generelle Prü-fung und Festsetzung des eigentlichen Leistungsanspruchs bzw. der konkreten Berechnung der Leistungen nach dem SGB II.
3. Leistungen nach dem SGB II werden auch nach einem (abgeschlossenen) Ge-richtsverfahren mittels Verwaltungsakt durch die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abschließend festgesetzt. Die Sozialgerichtsbarkeit ist daher als Judikative für die Überprüfung der streitigen Punkte einer Verwaltungsentschei-dung sachlich-inhaltlich zuständig, nicht für eine vollständige (Neu-)Berechnung eines rechtswidrigen Bescheides.
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )
4.1 LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26.02.2025 - L 3 AL 3561/24 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Da die Gerichte die Aufgabe haben, den Bürgern und der Verwaltung zu ihrem Recht zu verhelfen, soweit das notwendig ist, besteht der allgemeine Grundsatz, dass niemand die Gerichte unnütz oder gar unlauter in Anspruch nehmen oder ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren zur Verfolgung zweckwidriger und insoweit nicht schutzwürdiger Ziele ausnutzen darf.
2. Daher kann das Rechtsschutzinteresse fehlen, wenn der Rechtsweg unnötig, zweckwidrig oder missbräuchlich beschritten wird.
3. Dies ist der Fall, wenn die auf die Gewährung von Kurzarbeitergeld klagende GmbH gesellschaftlich nicht aktiv war und ist, sich nicht nachvollziehen lässt, dass die Klägerin überhaupt Arbeitnehmer beschäftigt hat, und die Klägerin durch die Übermittlung automatisiert generierter Dokumente zwecks Erschleichung von Sozialleistungen, ohne dass deren Voraussetzungen auch nur ansatzweise gegeben sein könnten, das prozessuale Klagerecht missbraucht.
5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
5.1 SG Lüneburg, Gerichtsbescheid vom 12.02.2025 - S 38 SO 9/22 -
Eingliederungshilfe: Behörde rät behindertem Kind Familienhaushalt zu verlassen und in eine besondere Wohnform zu ziehen
Orientierungssatz Detlef Brock
1. Assistenzleistungen auch für Kinder, wenn sie zu hause bei den Eltern leben.
2. Schulkinder, die in einem Familienhaushalt leben, können auch Assistenzleistungen an den Nachmittagen, die sie zu Hause verbringen, erhalten.
3. Denn die allgemeine Unterhaltspflicht der Eltern aus § 1601 BGB umfasst zwar auch pflegerische und medizinische Unterstützung.
Der behinderungsbedingte Bedarf an Assistenzleistungen geht jedoch darüber hinaus und führt zu einer entsprechenden Pflicht des Eingliederungshilfeträgers, dieses Angebot zu erbringen.
4. Insbesondere kann man Kinder nicht darauf verweisen, den Familienhaushalt zu verlassen und in eine besondere Wohnform zu ziehen.
5. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 90 Abs. 1 und 5 SGB IX, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern.
Das Gericht betont ausdrücklich, dass die Auffassung des Eingliederungshilfeträgers, wonach das Kind diese Assistenzleistungen - nur in einer vollstätionären Einrichtung - erhalten könne - völlig FALSCH sei.
Denn es gibt auch ambulante Assistenzleistungen für Kinder.
5.2 LSG NSB, Urteil v. 03.12.2024 - L 8 SO 121/24 B ER -
Stationäre Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten als Sozialhilfe für Ausländer
Leitsatz www.wolterskluver-online.de
1.Drohende Obdachlosigkeit nach Haftentlassung gehört im Grundsatz zu den "besonderen Lebensumständen mit sozialen Schwierigkeiten" iS des § 67 SGB XII (vgl BSG vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R = SozR 4-3500 § 67 Nr 1 RdNr 16 ff).
2. Eine einstweilige Anordnung nach § 86 Abs 2 SGG kann auch über Leistungen ergehen, die eine Ermessensentscheidung der Behörde (hier nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII - Sozialhilfe für Ausländer) voraussetzen (Fortsetzung von LSG Niedersachsen-Bremen v. 02.07.2020 - L 8 AY 37/20 B ER - juris Rdnr 9).
6. Verschiedenes zum Bürgergeld, Sozialhilfe, Wohngeld und anderen Gesetzesbüchern
6.1 LSG Sachsen, Urt. v. 06.03.2025 - L 7 EG 10/20 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Gegen die Bestimmung des Bemessungszeitraums für die Ermittlung des Einkommens aus nichtselbständiger Tätigkeit unter Berücksichtigung der Kalendermonate des Bezugs von Elterngeld Plus für ein älteres Kind nach Vollendung dessen 14. Lebensmonats bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock