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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 16/2022
1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )
1.1 LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 29.03.2022 - L 3 AS 29/22 B ER
Leitsätze
Konnte ein Hilfebedürftiger für einige Monate die Beiträge zur freiwilligen, gesetzlichen Krankenversicherung nicht bedienen, ist aber eine Ratenzahlungsvereinbarung mit der Krankenkasse abgeschlossen oder erscheint diese aufgrund aktuellem Erwerbseinkommen zumutbar, so vermittelt ein mögliches Ruhen der Krankenversicherungsansprüche nach § 16 Abs.3a SGB V kein eiliges Regelungsbedürfnis für die Zeit vor Eilantragstellung bei Gericht.
Nur bei Vorliegen gewichtiger Umstände im Einzelfall kann von der Jahresfrist gemäß § 7Abs.3a Nr.1 SGB II nach unten abgewichen werden.
Ein Verlöbnis begründet derart gewichtige Umstände nicht, wenn es wieder gelöst worden ist und daraufhin ein vorübergehender Auszug eines Partners erfolgt ist.
Die Versorgung von Kindern im Sinne von § 7 Abs.3a Nr.3 SGB II ist restriktiv auszulegen, um einen Wertungswiderspruch zu Nr.1 der Vorschrift zu vermeiden. Eine Unterschreitung der Jahresfrist ist auch beim Zusammenleben mit den Kindern des neuen Partners nur gerechtfertigt, wenn ein wesentlicher Anteil der Betreuungsleistungen durch den Stiefelternteil erbracht wird. Schulfahrdienste und die Einbeziehung der Kinder in die Hobbys des neuen Partners (hier Angeln) reichen dafür nicht aus.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170750
1.2 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.03.2022 - L 18 AS 232/22 B ER, L 18 AS 233/22 B ER PKH
Arbeitslosengeld II - Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht als dem der Arbeitsuche - Leistungsausschluss - Sozialhilfe - Lebenspartnerschaft mit Unionsbürger
Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE220025573
1.3 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.02.2022 - L 4 AS 450/18
nachträgliche Kosten der Unterkunft und Heizung - Teilaufhebung - Wohngeld - sachlicher Grund - Trennung der Leistungssysteme
Leitsatz
§ 40 Abs. 4 Satz 2 SGB II in der bis 31. Juli 2016 geltenden Fassung war verfassungsgemäß.
Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE220025932
1.4 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.02.2022 - L 20 AS 229/20
Sanktion - Minderungen Arbeitslosengeld II - Ermessensausübung - Rechtsfolgenbelehrung zeitlich vor der Entscheidung des BVerG zur teilweisen Verfassungswidrigkeit von Sanktionsregelungen
Keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das bisherige Recht zu den Anforderungen an die Rechtsfolgenbelehrung ( entgegen SG Hamburg, Urteil vom 24. September 2020 – S 58 AS 369/17 ).
Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Eine Rechtsfolgenbelehrung kann sich nur auf die im Zeitpunkt der Belehrung bestehenden Rechtslage beziehen und führen die bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben in der Entscheidung vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 – auch nicht dazu, dass es der Feststellung der Pflichtverletzung auch an einer ordnungsgemäßen Rechtsfolgenbelehrung mangelt.
Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE220025929
Rechtstipp Redakteur von Tacheles e. V. : anderer Auffassung: SG Speyer, Gerichtsbescheid v. 22.04.2021 - S 15 AS 117/19
Minderung des Arbeitslosengeld II - Eintritt von Sanktionstatbeständen vor dem 5.11.2019 - Anforderungen an die vorherige Rechtsfolgenbelehrung - Rückwirkung der Rechtsprechung des BVerfG - Hinweis- und Aufklärungspflichten der Grundsicherungsträger - Aufhebung nicht bestandkräftiger rechtswidriger Sanktionsbescheide - verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz
1. Eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II liegt nur bei vorheriger schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis durch den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vor. Die gesetzlichen Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung müssen daher vollständig dargelegt (bzw gekannt) werden, einschließlich aller Möglichkeiten, die Rechtsfolgen des Sanktionstatbestands unter bestimmten Umständen abzumildern oder ganz zu vermeiden. (Rn.30)
2. Hierzu gehören auch die Modifikationen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 5.11.2019 (1 BvL 7/16) mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs 2 BVerfGG) angeordnet hat. Diese gelten mangels entsprechender Einschränkungen im Tenor des Urteils rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der für mit der Verfassung unvereinbar erklärten Vorschriften (Anschluss an SG Hamburg vom 24.9.2020 - S 58 AS 369/17 = info also 2021, 86 = juris RdNr 37ff). (Rn.31)
3. Aus der rückwirkenden Geltung der vom BVerfG festgelegten Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs 1 SGB II ergibt sich, dass Betroffene auf diese Rechtsfolgen hätten hingewiesen werden müssen bzw ihnen diese hätten bekannt sein müssen, damit eine Minderung des Auszahlungsanspruchs hätte eintreten können. Der Umstand, dass den Behörden eine entsprechende Aufklärung bei Sanktionstatbeständen vor der Urteilsverkündung des BVerfG objektiv unmöglich war, ändert hieran nichts. (Rn.37) (Rn.42)
4. Hieraus folgt, dass alle Minderungsbescheide auf Grundlage der §§ 31a Abs 1 S 1, 2 und 3, 31b Abs 1 S 3 SGB II in Verbindung mit § 31 Abs 1 SGB II, die an Sachverhalte vor dem 5.11.2019 anknüpfen, rechtswidrig und - soweit nicht bestandskräftig (vgl § 40 Abs 3 S 1 Nr 1 SGB II) - aufzuheben sind. (Rn.43)
Hinweis: a. Auffassung auch SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 27.01.2021 – S 114 AS 3501/17
1.5 LSG Thüringen, Beschluss v. 24.02.2022 - L 9 AS 1107/19 NZB
Leitsätze
Jedenfalls dann, wenn das für die leistungsberechtigte Person zu niedrigeren Leistungen und einer Erstattungsforderung führte, verbietet es sich, einen Antrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch auf Überprüfung der vorläufigen Entscheidung als Antrag auf abschließende Entscheidung nach § 41a Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch anzusehen.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170760
1.6 Bay LSG, Urt. v. 28.09.2021 - L 7 AS 452/19
Leitsätze
Bei der Beurteilung, ob vorhandenes Vermögen Leistungen nach dem SGB II ausschließt, darf der Wert einer Immobilie nach Aktenlage geschätzt werden, wenn der Eigentümer bei der Wertermittlung nicht mitwirkt.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170765
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )
2.1 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.01.2022 - L 13 AL 190/21
Arbeitslosengeldanspruch - Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe - wichtiger Grund - Ortswechsel - eheähnliche Gemeinschaft
Ortswechsel zur Begründung einer (zuvor nicht bestehenden) nichtehelichen Lebensgemeinschaft stellt keinen wichtigen Grund dar im Sinne der vom BSG entwickelten Grundsätze ( Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V. )
Rechtstipp: a. Auffassung: LSG NSB, Urteil vom 12.12.2017, L 7 AL 36/16 - Ein wichtiger Grund zur Aufgabe des Arbeitsplatzes zwecks Umzuges zum Lebensgefährten kann sperrzeitrechtlich auch bei der erstmaligen Begründung eines gemeinsamen Haushaltes vorliegen.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170813
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
3.1 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.03.2022 - L 7 SO 4143/20
Leitsätze
Das Mittagessen in Einrichtungen ist kein Bestandteil der Eingliederungshilfeleistungen, soweit die Kosten des Mittagessens die Höhe des Mehrbedarfs nach § 42b Abs. 2 Satz 3 SGB XII nicht übersteigt. Nur soweit die Kosten für die Herstellung und Bereitstellung hierdurch nicht gedeckt werden, sind sie der Eingliederungshilfe zugeordnet.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170724
3.2 Sächsisches LSG, Beschluss v. 22.03.2022 - L 8 SO 49/21 B ER
Leitsätze
Zur Kostenübernahme des Eingliederungshilfeträgers für ein Probewohnen in einer besonderen Wohnform
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170748
3.3 Sächsisches LSG, Beschluss v. 22.03.2022 - L 8 SO 2/22 B ER
Leitsätze
Zur außerordentlichen Kündigung einer Zielvereinbarung eines Persönlichen Budgets
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170749
3.4 Bay LSG, Urt. v. 17.03.2022 - L 8 SO 170/21
Leitsätze
Auch wenn nach dem landesrechtlichen Bestattungsrecht zwischen bestattungsverpflichteten Verwandten keine Rangfolge besteht, kann im Rahmen des § 74 SGB XII verpflichtet nur sein, wer zugleich Erbe ist.
Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/170766
4.Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
4.1 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.03.2022 - L 15 AY 13/20
Analogleistungen - Modalitäten der Leistungserbringung - Banküberweisung - Barscheck - Ermessensreduktion auf Null - Kontrolle der Leistungsvoraussetzungen nach dem AsylbLG - Durchsetzung ausländerrechtlicher Pflichten - sachfremde Erwägungen - Heilung einer mangelhaften Ermessensbegründung
Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Es käme nur dann ein Anspruch auf Überweisung der Leistungen auf ihr Konto zu, wenn das dem Beklagten eröffnete Ermessen dahingehend auf Null reduziert wäre, dass sich allein diese Entscheidung als rechtmäßig darstellen würde. So liegt der Fall hier jedoch nicht.
2. Eine ggfls. zu erwartende Kostenersparnis bewirkt alleine keine Ermessensreduktion auf Null.
Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE220025927
5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern
5.1 Das Auswärtige Amt hat eine aktualisierte Fassung des Visumhandbuch (Stand: März 2022) veröffentlicht: Wenn man die Datei in Acrobat öffnet, kann man links im Menü „Lesezeichen“ öffnen und hat dann eine Art Inhaltsverzeichnis, recherchiert von Claudius Voigt
https://www.auswaertiges-amt.de/blob/207816/101441d43c4bbac8da90ad8bb00903be/visumhandbuch-data.pdf
Wir wünschen allen Menschen Frohe Ostern und friedliche, gesunde Tage.
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock