Newsticker
Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2024
1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
1.1 LSG Sachsen, Urt. v. 08.05.2024 - L 3 AS 75/21 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Welche Frist im Sinne von § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II angemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Umfang der nachzuweisenden Tatsachen.
2. Bei Selbständigen erscheint in Anlehnung an die bis zum 31. Juli 2016 geltende entsprechende Frist in § 3 Abs. 6 Alg II-V eine Zeitspanne von zwei Monaten zum Nachweis von Einkommen grundsätzlich als angemessen.
3. Eine Mindestfrist von zwei Monaten ist schon deshalb zu verneinen, weil der Gesetzgeber gerade keine starre Frist vorgesehen hat.
4. Eine Fristsetzung wird nicht schon dadurch hinfällig, dass das Jobcenter nach dem Ablauf der gesetzten Frist zunächst keine abschließende Festsetzung vorgenommen hat. Denn es ist dem Jobcenter möglich, auf einen Fristverlängerungsantrag oder andere Umstände, die eine Fristverlängerung im Einzelfall als geboten erscheinen lassen, zu reagieren.
1.2 Sächsisches LSG, Urt. v. 08.05.2024 - L 3 AS 1279/19 -
Keine Erstausstattung der Wohnung bei Aufgabe der möblierten Wohnung im Ausland, um sich in Deutschland auf Arbeitssuche zu begeben ( Leitsatz Verein Tacheles e. V. ).
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Für die Frage nach einer Aufenthaltsverfestigung knüpft das Bundessozialgericht für die Ermessensreduktion nach Ablauf von sechs Monaten nicht an eine tatsächliche Aufenthaltsverfestigung an, sondern an der Regelung des Leistungsausschlusses des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII a. F., die wiederum auf die Freizügigkeitsberechtigung zum Zwecke der Arbeitssuche nach § 2 Abs. 1a FreizügG/EU für die Dauer von grundsätzlich sechs Monaten verweist.
2.a) Eine Wohnungserstausstattung ist grundsätzlich zu gewähren, wenn der Bedarf für die Ausstattung einer Wohnung besteht, der nicht bereits durch vorhandene Möbel und andere Einrichtungsgegenstände gedeckt ist. Eine Erstausstattung kann aber auch bei einem erneuten Bedarf nach einer Erstbeschaffung von Einrichtungsgegenständen vor oder während des SGB II-Bezugs in Betracht kommen.
b) Bei anderen Sachverhalten als einer "Erstausstattung" für die Wohnung ist zu fragen, ob diese wertungsmäßig mit einer Erstausstattung gleichzusetzen sind. Dies ist dann der Fall, wenn eine atypische Bedarfslage vorliegt, die wertungsmäßig mit einer Erstausstattung vergleichbar ist, sodass es gerade wegen ihrer Atypik gerechtfertigt ist, dass Leistungen gesondert neben dem Regelbedarf gewährt werden.
3. Ein "außergewöhnlicher Umstand", der die Gewährung einmaliger Bedarfe rechtfertigt, setzt voraus, dass eine spezielle Bedarfslage gegeben ist, die erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweicht und für den Hilfebedürftigen im Vergleich zu anderen Hilfebedürftigen ein Sonderopfer darstellt.
4. Der Entschluss, eine eingerichtete Wohnung aufzugeben, um sich zur Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme nach Deutschland zu begeben, stellt kein außergewöhnliches Ereignis dar.
Rechtstipp Detlef Brock
1. BSG, Urteil vom 27.09.2011 - B 4 AS 202/10 R - und LSG Hessen, Urt. v. 11.03.2020 - L 6 AS 141/18 -
Einem Anspruch auf Ersatzbeschaffung ( Zuschuss ) einer Wohnungserstausstattung nach dem SGB 2 bei Zuzug aus dem Ausland steht ein in der Vergangenheit liegender fahrlässiger Verlust vorhandener Möbel nicht entgegen.
2. SG Wiesbaden, Urteil v. 17.12.2015 - S 33 AS 300/13 - bestätigt durch LSG Hessen, Urt. v. 25.01.2017 - L 6 AS 205/16 -
Jobcenter muss Kosten für Möbel nach willentlicher Aufgabe wegen Umzugs nach Italien und wieder zurück nach Deutschland nicht noch einmal übernehmen.
1.3 LSG BB, Urt. v. 13.06.2024 - L 25 AS 43/24 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU gilt auch für Tätigkeiten, die genau ein Jahr gedauert haben (Anschluss an Bundessozialgericht, Urteil vom 9. März 2022 – B 7/14 AS 79/20 R - SGb 2022, 699).
2. Die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Art. 45 AEUV bleibt im Fall eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes unberührt.
3. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch Zeiten eines schwangerschaftsbedingten Beschäftigungsverbotes in die Berechnung der Jahresfrist einzubeziehen sind.
4. Zur Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 AEUV.
2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 SG Ulm, Urt. v. 04.06.2024 - S 10 AS 1996/23 - Berufung zugelassen
Grundsicherung für Arbeitssuchende - Bevollmächtigter im Widerspruchsverfahren - Angemessene Frist zum Nachweis der Vollmacht - Zugang bei Übermittlung mittels beA - Zugangsfiktion - Isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides
Leitsatz www.landesrecht-bw.de
1. Das Setzen einer Frist von weniger als zwei Wochen zum schriftlichen Nachweis der Bevollmächtigung im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren ist grundsätzlich unangemessen kurz. Wartet die Behörde in einem solchen Fall keinen angemessenen Zeitraum nach Ablauf einer unangemessenen Frist ab, ist die Verwerfung des Widerspruches als unzulässig rechtswidrig.
2. In einem solchen Fall kann der Betroffene zulässiger Weise isoliert die Aufhebung des Widerspruchsbescheides anstreben.
3. Fordert das Jobcenter einen Rechtsanwalt durch Übermittlung einer Nachricht mittels beA zum schriftlichen Nachweis der Vollmacht auf, besteht, sofern kein elektronisches Empfangsbekenntnis angefordert wird, keine Vermutung dafür, dass die Aufforderung an dem Tag zugegangen ist, an welchem die Nachricht auf dem Server hochgeladenen wurde. Von einem Zugang kann jedoch an dem Tag ausgegangen werden, an welchem der Rechtsanwalt das entsprechende Dokument abgespeichert hat.
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht nach dem ( SGB III )
3.1 LSG Sachsen, Urt. v. 18.01.2024 - L 3 AL 4/21 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. § 26 Abs. 2b SGB III dient dem Zweck, dass Personen, die zuvor in der Arbeitslosenversicherung versichert waren, durch die Aufnahme der Pflegetätigkeit dieses Schutzes nicht verlustig gehen sollen.
2. Im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs lässt sich eine tatsächlich ausgeübte Pflegetätigkeit im Umfange von 11 Stunden/Woche nicht dahingehend ersetzen, dass von einer nach § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III a. F. erforderlichen Pflegetätigkeit im Umfang von "wenigstens 14 Stunden wöchentlich" auszugehen wäre.
3. Es besteht von Verfassung wegen kein Anspruch darauf, sozialpolitisch wünschenswerte Tätigkeiten wie die Pflege von Angehörigen voraussetzungslos in das Recht der Arbeitslosenversicherung einzubeziehen.
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
4.1 SG Lüneburg, Beschluss v. 21.05.2024 - S 38 SO 23/24 ER -
Geltendmachung des Anspruchs auf Rückforderung einer Schenkung zur Deckung von nicht gedeckten Heimkosten, hier bejahend
Leitsatz Verein Tacheles e. V.
Zur Deckung der Heimkosten ist ein Schenkungsrückforderungsanspruch geltend zu machen, denn Allein das hohe Alter der Antragstellerin ist kein ausreichender Grund für die Annahme, dass sie ihre rechtlichen Angelegenheiten weder überblicken noch regeln kann.
Auf steuerfinanzierte Mittel der Sozialhilfe kann nur zurückgegriffen werden, soweit eigenes Einkommen oder Vermögen nicht vorhanden sind, um den Lebensunterhalt zu sichern, somit besteht eine Verpflichtung des Vermögens.
5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
5.1 Sozialgericht Würzburg – Beschluss vom 19.06.2024 – Az.: S 4 AY 30/24
Normen: § 88 SGG – Schlagworte: Kostenlast nach Untätigkeitsklage, verspätete Abgabe an Widerspruchsbehörde, Vielzahl von Widersprüchen, Sozialgericht Würzburg
weiter bei RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/
5.2 LSG Bayern, Beschluss v. 11.06.2024 - L 11 AY 23/24 B PKH
Leitsätze
Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG bei vollziehbar ausreisepflichtigen Leistungsberechtigten (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG)
6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
6.1 LSG Sachsen, Urt. v. 08.05.2024 - L 3 BK 4/23 -
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Eltern eines behinderten Kindes, bei dem die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, haben für dieses ohne Begrenzung des Kindesalters einen Anspruch auf Kindergeld.
2. Die generelle Begrenzung des Anspruchs auf Kinderzuschlag auf Kinder, die noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben, ist abschließend.
3. Das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz dient ebenso wie die Regelungen zu den Freibeträgen für Kinder in § 32 EStG und zum steuerrechtlichen Kindergeld dem Familienlastenausgleich. Demgegenüber ist der Kinderzuschlag Teil eines umfassenden Gesetzgebungskomplexes zur Regelung der Grundsicherung für Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern können und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhalten.
4. Die Auffassung, dass nicht das Lebensalter des Kindes, sondern dessen geistige Entwicklung für einen Anspruch auf Kinderzuschlag maßgebend ist, findet in den Regelungen zum Kinderzuschlag keine Stütze.
5. Die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Kinderzuschlag gelten unterschiedslos unabhängig davon, welcher Religionsgemeinschaft ein Antragsteller angehört oder ob er konfessionslos ist.
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock