Newsticker
Tacheles Rechtsprechungsticker KW 29/2024
1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung ( SGB II )
1.1 BSG, Urt. v. 11.07.2024 - B 4 AS 11/23 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss - Ausbildungsförderung - Studium - Beurlaubung - nachgeholte Antragstellung
Kann ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB 2 gemäß § 28 SGB 10 zurückwirken, wenn der Betroffene rückwirkend vom Studium beurlaubt worden ist und deswegen die Bewilligung der Leistungen nach dem BAföG aufgehoben und deren Erstattung verlangt worden ist?
BSG: Keine Zurückwirkung des Antrags auf ALG II bei Leistungsausschluss und fehlendem Kausalzusammenhang
Wortlaut des § 28 SGB X
Nach dessen Wortlaut muss der Leistungsempfänger deshalb von der Stellung eines Antrags abgesehen haben, weil er sich die Gewährung einer anderen Sozialleistung versprochen hat. Dies setzt zunächst einen Kausalzusammenhang zwischen der Nichtbeantragung der einen und der Geltendmachung der anderen Sozialleistung voraus. Darüber hinaus muss dieser Zusammenhang auf einer bewussten Nichtbeantragung beruhen.
Kausalzusammenhang zwischen der Nichtbeantragung der einen und der Geltendmachung der anderen Sozialleistung
An dieser bewussten Entscheidung, die im Zeitpunkt der Beantragung der - anderen Sozialleistung vorliegen muss, fehlt es hier, so ausdrücklich die Richter des BSG. Denn der Antragsteller hat nicht von der Beantragung der ALG 2 Leistungen abgesehen, weil er einen Anspruch auf eine andere Sozialleistung geltend gemacht hat.
Insofern unterscheidet sich der Fall in tatsächlicher Hinsicht von demjenigen, über den der Senat im Urteil vom 6. Juni 2023 (B 4 AS 86/21 R) zu befinden hatte.
Terminbericht des BSG vom 12.07.2024: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2024/2024_07_11_B_04_AS_11_23_R.html
1.2 BSG, Urt. v. 11.07.2024 - B 4 AS 14/23 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung - Kindergeldnachzahlung - einmalige Einnahme
Zum Verhältnis zwischen § 11 Abs 1 S 4, 5 SGB 2 und § 11 Abs 3 S 4 SGB 2 aF im Hinblick auf die Berücksichtigung einer Kindergeldnachzahlung für ein volljähriges Kind, das in einer Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter lebt, als Einkommen.
BSG: Kindergeldnachzahlung war einmalige Einnahme
1. Die Kindergeldnachzahlung war nicht auf 6 Monate aufzuteilen, sondern als Einmalige Einnahme zu berücksichtigen.
2. Auch bei Nachzahlungen wie Kindergeld gilt, dass im Monat des Zuflusses die Versicherungspauschale in Höhe von 30 € nur einmalig abgesetzt werden kann.
Rechtstipp Detlef Brock
Die Versicherungspauschale von 30,00 Euro ist bei einer Nachzahlung von Kindergeld für mehrere Monate nicht mehrfach in Abzug zu bringen ( Sächsisches LSG, Urt. v. 06.12.2022 - L 4 AS 939/20 - Anschluss an LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 8. September 2020 – L 7 AS 354/19 - ).
Anderer Auffassung zur Absetzung der 30 Euro Versicherungspauschale bei Kindergeldnachzahlung:
1. LSG Berlin Brandenburg, Urteil vom 17. September 2015 - L 31 AS 1571/15 - Auch wenn das Kindergeld im Rahmen einer Nachzahlung für mehrere Monate in nur einem Monat zufließt, ist für jeden Monatsbetrag die Versicherungspauschale von 30,- € abzusetzen.
2. SG Hildesheim, Urt. v. 30.09.2021 - S 26 AS 1381/20 - Bei einer Kindergeldnachzahlung ist für jeden Monat die Versicherungspauschale zu berücksichtigen.
Quelle: Terminbericht des BSG vom 12.07.2024: https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2024/2024_07_11_B_04_AS_14_23_R.html
Anmerkung von Detlef Brock Tacheles e. V. :
Kehrtwende beim 4. Senat des BSG zwecks Absetzung der Versicherungspauschale bei Nachzahlungen?
Rudert der 4. Senat unter neuem Vorsitz etwa zurück, denn 2021 war er noch ganz anderer Auffassung
Siehe dazu meinen Beitrag hier: ganz unten zum Schluss: https://www.gegen-hartz.de/urteile/buergergeld-kindergeldnachzahlung-ist-einmalige-einnahme-absetzung-der-30-e-pauschale-nur-einmalig
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
2.1 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 24.04.2024 - L 5 AS 245/21 -
Kosten der Dachreparatur sind Kosten der Instandhaltung nach § 22 Abs. 2 SGB II ( Orientierungssatz Verein Tacheles e. V. )
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Zur Abgrenzung von Maßnahmen nach § 555b Nr 6 BGB zu solchen nach § 555a BGB im Rahmen der Kostenübernahme der Instandhaltung nach § 22 SGB II durch den Grundsicherungsträger.
2. Auch bei Annahme eines zunächst baurechtswidrigen Zustands eines Daches kann eine übernahmefähige Instandhaltungsmaßnahme vorliegen, wenn lediglich eine Reparatur vorgenommen wird (hier: zu geringe Dachneigung für Pappschindeln, Reparatur mit Sanierungsbahnen).
2.2 LSG BB, Urt. v. 24.04.2024 - L 37 SF 29/22 EK AS WA - Revision zugelassen
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Entschädigungsrechtlich ist im Falle der Verbindung der Ausgangsverfahren nur (noch) von einem Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG auszugehen, sodass nur ein einziger – einheitlicher –Entschädigungsanspruch entsteht (Anschluss an BSG, Urteil vom 21.03.2024 – B 10 ÜG 2/23 R – unter Aufgabe der eigenen bisherigen Senatsrechtsprechung, vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.03.2017 – L 37 SF 6/16 EK AS – juris Rn. 41).
2. Dies gilt auch dann, wenn es in den zugrunde liegenden Ausgangsverfahren erstinstanzlich erst kurz vor der dortigen Verfahrenserledigung zur Verbindung gekommen ist.
3. Der Verzögerungsumfang ist in Konstellationen, in denen die Ausgangsverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden wurden, anhand desjenigen Verfahrens zu bestimmen, das die meisten Verzögerungsmonate aufweist.
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld ( SGB II )
3.1 SG Hamburg, Urt. v. 28.11.2022 - S 62 AS 4306/19 -
Arbeitslosengeld II - Wohnungserstausstattung - Anspruchsinhaberschaft bei Bedarfsgemeinschaft aus mehreren Personen - Antragserfordernis - Selbstbeschaffung vor Antragstellung - Rückwirkung des Antrags auf den Monatsersten - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch - Verletzung von Beratungs- bzw Hinweispflichten durch den Grundsicherungsträger - Fingierung rechtzeitiger Antragstellung - Auswahlermessens des Grundsicherungsträgers - Selbstbindung bzgl Erbringung von Geldleistungen
Orientierungssatz www.landesrecht-hamburg.de
1. Bei Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft ist grundsätzlich jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Inhaber eines (ggf anteiligen) Anspruchs auf Erstausstattung nach § 24 Abs 3 S 1 SGB II. (Rn.50)
2. Anträge auf Gewährung einer Erstausstattung wirken gemäß § 37 Abs 2 S 2 SGB II auf den Ersten des Monats zurück. (Rn.62)
3. Leistungsträger nach dem SGB II sind bereits im Rahmen eines Erstkontakts mit Leistungsberechtigten, die kürzlich aus dem Ausland eingereist sind, verpflichtet, auf das Bestehen eines Anspruchs auf Erstausstattung und auf die hierfür bestehende Notwendigkeit einer Antragstellung hinzuweisen. (Rn.66)
4. Die nach Antragstellung und vor einer Entscheidung des Leistungsträgers erfolgte Selbstbeschaffung von Erstausstattungsgegenständen steht dem Anspruch auf Erstausstattung dann nicht entgegen, wenn die Fachanweisungen des zuständigen Leistungsträgers die Gewährung von Geldleistungen als Pauschalen vorsieht. (Rn.69)
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht nach dem ( SGB III )
4.1 LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 13.03.2024 - L 2 AL 22/19
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Verwaltungsakteigenschaft - Ausführungen der Bundesagentur für Arbeit zur Höhe eines ausgezahlten Gründungszuschusses und zur Zahlungspflicht eines Arbeitgebers infolge Anspruchsübergangs
Orientierungssatz www.landesrecht-mv.de
Soweit die Bundesagentur für Arbeit in einem Bescheid, in dem der Zeitraum, innerhalb dessen ein Ruhenstatbestand nach § 157 Abs 1 SGB 3 vorgelegen hätte, festgestellt wird, Ausführungen zur Höhe eines ausgezahlten Gründungszuschusses und zur Zahlungspflicht eines Arbeitgebers infolge Anspruchsübergangs macht, liegt keine Regelung iS des § 31 SGB 10 vor. (Rn.34)
5. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )
5.1 SG Heilbronn, Urt. v. 26.06.2024 - S 3 SO 2208/23 -
Leitsatz www.landesrecht-bw.de
Zum Erfordernis einer Vereinbarung nach §§ 123f. SGB 9 als Voraussetzung für die Kostenübernahme von Ferienfreizeiten und Tagesausflügen des beigeladenen Leistungserbringers im Rahmen der Eingliederungshilfe
5.2 SG Lüneburg, Urt. v. 23.02.2024 - S 38 SO 87/21 -
Klage eines in einem Pflegewohnheim Betreuten wegen der Aufhebung der Regelleistungen
Keine pauschale Einordnung eines Krankenhauses als stationäre Einrichtung.
Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
Es verbietet sich eine pauschale Einordnung eines Krankenhauses als "stationäre Einrichtung" ( a. A. BeckOK SozR/Groth, 71. Ed. 1.9.2023, SGB XII § 13 Rn. 14 oder Grube/Wahrendorf/Flint/Deckers, 8. Aufl. 2024, SGB XII § 13 Rn. 28; Luthe in: Hauck/Noftz SGB XII, 2. Ergänzungslieferung 2024, § 13 SGB 12, Rz, 53).
1. Bei Krankenhäusern handelt es sich um - keine Einrichtung im Sinne von § 13 Abs. 2 SGB XII.
2. Auch in Krankenhäusern besteht der Anspruch auf den Regelsatz, nicht nur der Barbetrag, der in stationären Einrichtungen erbracht wird.
Rechtstipp Detlef Brock
Bei einem Krankenhaus handelt es sich - nicht um eine stationäre Einrichtung ( dem zustimmend: SG Detmold, Urt. v. 27.02.2020 - S 11 SO 59/18; LSG NRW, Urt. v. 02.12.2021 - L 9 SO 8/21 – Rehaklinik keine stationäre Einrichtung; anderer Auffassung: LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 3.11.2011 - L 8 SO 30/10 B - ).
6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
6.1 Vorlagebeschluss der 18. Kammer vom 5. Juni 2024 (VG 18 K 342/22)
BAföG für Studierende darf nicht geringer sein als Bürgergeld
Die Regelungen im Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) über die Höhe der Ausbildungsförderung für Studierende im Jahr 2021 verstoßen gegen das Grundgesetz.
Die 18. Kammer des Verwaltungsgerichts hat die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil die BAföG-Regelungen zum Grundbedarf für Studierende sowie zum Unterkunftsbedarf für nicht bei den Eltern lebende Studierende mit dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten (Art. 12 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes) nicht vereinbar seien.
Dieses Teilhaberecht verpflichte den Gesetzgeber, für die Wahrung gleicher Bildungschancen Sorge zu tragen und im Rahmen der staatlich geschaffenen Ausbildungskapazitäten allen entsprechend Qualifizierten eine (Hochschul-) Ausbildung zu ermöglichen. Dem hieraus folgenden Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung habe der Gesetzgeber mit den BAföG-Regelungen zwar dem Grunde nach Rechnung getragen.
Er habe jedoch mit der konkreten Festlegung der für 2021 geltenden Bedarfssätze für Studierende – sowohl mit dem Grundbedarf als auch mit dem Unterkunftsbedarf – die Gewährleistung eines ausbildungsbezogenen Existenzminimums verfehlt.
Wichtiger Hinweis: Nicht veröffentlichte Urteile ( gekennzeichnet durch n. v. ), Anmerkungen bzw. Urteilsbesprechungen von Rechtsanwälten, welche wir von Gerichten, Rechtsanwälten oder Privatkunden erhalten, dürfen zitiert werden, aber nur mit Quellhinweis Verein Tacheles, alles andere stellt eine Urheberrechtsverletzung dar. Danke!
Für Urteile, die der Verein Tacheles von Rechtsanwälten veröffentlicht, haben wir eine Erlaubnis!
Im Umkehrschluss heißt das, das, wenn Urteile von einer Homepage eines Rechtsanwalts stammen, ist ein Link zu dieser Homepage zu setzen oder als Quelle der Verein Tacheles bekannt zu geben, die Nichtnennung der Quelle stellt einen Urheberrechtsverstoß dar, diesbezüglich gab es schon Beschwerden von Rechtsanwälten. Bitte berücksichtigen Sie das ab sofort. Danke!
Auch die Hinweise, Leitsätze und Rechtstipps im Ticker sind mit der Quelle: Hinweis von Tacheles zu kennzeichnen, alles Andere stellt eine Urheberrechtsverletzung dar.
Die Veröffentlichung unterliegt der Creative-Commons-Lizenz CC–BY-SA 3.0 Lizenz.
Jede Verwendung von urheberrechtlich geschützten Werken im Internet, die ohne Zustimmung des Urhebers bzw. Rechteinhabers erfolgt, ist eine Urheberrechtsverletzung. Zitate aus dem Ticker erfordern immer eine Quellenangabe!
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock