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Jahresarchiv

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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 41/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

 1.1 BSG, Urt. v. 20.09.2023 - B 4 AS 6/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Leistungsfestsetzung - nachträgliche Änderung - monatsübergreifende Saldierung

Ist nach der nachträglichen Änderung einer abschließenden Entscheidung im Sinne des § 41a Abs 3 S 1 SGB 2, die zwar zu geringeren Leistungen für einzelne Monate, insgesamt aber zu einem höheren Leistungsbetrag für den gesamten Bewilligungszeitraum führt, erneut eine Saldierung gemäß § 41a Abs 6 S 2 SGB 2 vorzunehmen?

BSG-Urteil: Rückforderung von Bürgergeld bei Aufstockern wird schwieriger

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.

Rückforderungen überzahlter Leistungen bei Bürgergeld-Aufstockern müssen monatsweise geprüft werden.

Quelle:https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Verhandlungen/DE/2023/2023_09_20_B_04_AS_06_22_R.html

 

Hinweis: BSG-Urteil: Rückforderung von Bürgergeld bei Aufstockern wird komplizierter, weiter auf Jura Forum: https://www.juraforum.de/news/bsg-urtei ... ter_259243

 

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

2.1 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 23.08.2023 - L 31 AS 627/23 B ER

Folgekosten für Obdachlosigkeit lassen die Übernahme von Mietschulden nicht als gerechtfertigt erscheinen.

Leitsätze

1. Auch wenn die Kosten der Unterkunft unangemessen hoch sind, kommt die Übernahme von Mietschulden als Darlehen dann in Betracht, wenn die Antragsteller die Differenz zwischen angemessener Miete und tatsächlicher Miete mit den Freibeträgen aus Erwerbstätigkeit decken können und eine Prognose ergibt, dass die Freibeträge in Zukunft auch tatsächlich zu diesem Zweck verwendet werden.

2. Allein ein durch den Umzug erforderlich werdender Schulwechsel der Kinder der Antragsteller vermag die Übernahme von Mietschulden nicht zu rechtfertigen.

3. Folgekosten für Obdachlosigkeit lassen die Übernahme von Mietschulden nicht als gerechtfertigt erscheinen, da die Rechtmäßigkeit eines Bescheides von der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm abhängt und nicht davon, ob der Bescheid sich für die Staatskasse als wirtschaftlich sinnvoll erweist.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174391

 

Anmerkung: Sehr fragwürdige Entscheidung, Richter ohne Herz, denn es kann auch so gehen: LSG NRW, Beschluss vom 03.12.2014 - L 19 AS 1909/14 B ER - rechtskräftig -

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 SGB II hat eine Übernahme der Mietschulden durch den Leistungsträger regelmäßig zu erfolgen. Die Nichterbringung des Darlehens stellt den Ausnahmefall dar, der nicht bereits dann anzunehmen ist, wenn sich ein Verschulden des Leistungsempfängers an der Entstehung der Verbindlichkeiten feststellen lässt ( Tacheles Rechtsprechungsticker KW 51/2014 ).

Lesenswert: Mietschuldenübernahme auch im Wiederholungsfall - Ein Beitrag v. RA Helge Hildebrandt

https://sozialberatung-kiel.de/2014/06/ ... lungsfall/

Auch hier ein lesenswerter Artikel zu diesem Thema: Mietschuldendarlehen auch bei unangemessen teurer Unterkunft im Einzelfall möglich (RA Matthias Göbe, Berlin, veröffentlicht zuletzt im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2023 mit Hinweis auf LSG BB, Beschluss v. 17.06.2023 - L 18 AS 512/23 B ER ).

https://tacheles-sozialhilfe.de/newstic ... -2023.html

 

 

2.2 LSG Hamburg, Urt. v. 04.04.2023 - L 4 AS 240/22 D

Anrechnung einer erfüllten Geldforderung des Grundsicherungsberechtigten als Einkommen auf die ihm bewilligten Grundsicherungsleistungen

Orientierungssatz


1. Nach § 48 SGB 10 ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben, soweit nach Antragstellung Einkommen erzielt worden ist. Einkommen ist das, was der Grundsicherungsberechtigte in der Bedarfszeit dazu erhält.(Rn.29)

2. Bei der Erfüllung einer Forderung ist von zugeflossenem Einkommen auszugehen. Eine Forderung stellt kein Vermögen dar, das durch die Auszahlung lediglich um geschichtet wird.(Rn.30)

Quelle: https://www.landesrecht-hamburg.de/bsha ... E230049198


Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.

1. Die Auskehrung eines Pflichtteilsanspruchs ist als Einkommen und nicht als Vermögen zu werten.

2. Denn die Forderung des Klägers aus dem Schuldanerkenntnis ist erst während des laufenden Bezugs von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erfüllt worden. Bei der Erfüllung einer Forderung ist von zugeflossenem Einkommen auszugehen. Eine Forderung stellt kein Vermögen dar, das durch die Auszahlung lediglich umgeschichtet wird.

 

2.3 LSG Hamburg, Urt. v. 04.04.2023 - L 4 AS 203/21

 Maßgebliche Leistungsbeginn bei vom Grundsicherungsberechtigten gestellten Antrags

Orientierungssatz


1. Leistungen der Grundsicherung werden nach § 37 SGB 2 ab Antragstellung erbracht. Kann einem wirksam gestellten Antrag keine Einschränkung auf einen gewünschten späteren Leistungsbeginn entnommen werden, so sind die Leistungen ab Antragstellung zu gewähren.(Rn.54)

2. Der Leistungsberechtigte kann nur dann über die Gestaltung des Sozialleistungsverhältnisses in zulässiger Weise durch eine Antragsrücknahme disponieren, soweit einseitig seine Rechte oder Vergünstigungen betroffen sind. Die nachträgliche Beschränkung eines einmal gestellten Antrags unterfällt nicht seiner Disposition, wenn hierdurch die materiell-rechtlichen Leistungsvoraussetzungen zu seinen Gunsten verändert werden sollen.(Rn.58)

Quelle: https://www.landesrecht-hamburg.de/bsha/search

 

 

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

3.1 LSG NRW, Urt. v. 30.03.2023 - L 9 AL 136/22 - Revision zugelassen

Insolvenzgeld nach einer Beschäftigung bei einem Schweizer Unternehmen

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.

Kein Insolvenzgeld, weil es sich bei dem Beschäftigungsverhältnis nicht um ein inländisches Beschäftigungsverhältnis iSd § 165 Abs. 1 Satz 3 SGB III gehandelt hat.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174419

 

 

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )

4.1 SG Rostock, Urt. v. 12.09.2023 - S 8 SO 45/22

Beförderungskosten als Annexleistung zu Leistungen der Eingliederungshilfe

Leitsatz

Auch nach dem 01.01.2020 sind die Regelungen zur Eingliederungshilfe im SGB 9 weiterhin so auszulegen, dass bei Durchführung einer bewilligten Eingliederungshilfemaßnahme notwendigerweise entstehende Fahrkosten als deren Bestandteil vom Träger der Eingliederungshilfe zu übernehmen sind.

Die eingeschränkten Voraussetzungen der Leistungen zur Mobilität in §§ 83, 114 SGB 9 beanspruchen nur für selbstständige Mobilitätsleistungen ohne notwendigen Zusammenhang mit anderen bewilligten Eingliederungshilfeleistungen Geltung.

Quelle: https://www.landesrecht-mv.de/bsmv/search

 

 

4.2 Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 27.04.2023 - L 7 SO 203/23 - Revision anhängig BSG - B 8 SO 6/23 R

Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - Bedarfe für Unterkunft und Heizung - dezentrale Heizung und Warmwassererzeugung - Schätzung des auf die Heizung entfallenden Anteils an den Gaskosten - Schätzung der Stromkosten für den Betrieb der Heizung - zur Gewährung eines Mehrbedarfs für die dezentrale Warmwassererzeugung

Handelt es sich um eine zentrale oder um eine dezentrale Warmwassererzeugung, wenn Heizung und Warmwasserzeugung über eine zur Wohnung gehörende Gastherme erfolgen?

Zu den Anforderungen an eine Schätzung der Höhe der Stromkosten für den Betrieb einer Heizungsanlage.

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.

1. Die Heizung und Warmwassererzeugung erfolgt mittels einer zur Wohnung gehörenden Gastherme, somit handelt es sich um eine dezentrale Heizung und Warmwassererzeugung.

2. Es sind keine Anhaltspunkte für eine Feststellung der jeweils auf die Heizung und die Warmwassererzeugung entfallenden Gaskosten ersichtlich, damit ist der auf die Heizung entfallende Gasanteil im Wege der Schätzung nach § 278 Abs 2 iVm § 278 Abs 1 S 1 ZPO zu ermitteln.

3. Bei den Bedarfen für Unterkunft und Heizung sind zudem die Stromkosten für den Betrieb der Gastherme zu berücksichtigen. Die Kosten des Betriebsstroms einer dezentralen Heizungsanlage sind grundsätzlich in die Berechnung der angemessenen Heizkosten einzustellen. Sie werden nicht vom Regelbedarf erfasst, sondern zählen zu den Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 35 SGB XII (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 47/14 R ).

4. Die mietrechtliche Rechtsprechung stellt bei fehlender exakter Erfassung auf einen geschätzten Anteil der Brennstoffkosten ab ( gemäß BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 47/14 R üblicherweise 4-​10%). Der Senat schätzt den Anteil der auf den Betrieb der Heiztherme entfallenden Stromkosten auf 7% (Mittel von 4% und 10%) der Gaskosten.

Anmerkung: ( in der sozialrechtlichen Rechtsprechung wird ein Anteil von 5% zugrunde gelegt (LSG B- W, Urteil vom 25. März 2011, L 12 AS 2404/08; LSG N-B, Urteil vom 10. Juli 2012, L 7 AS 988/11 ZVW; LSG B-B, Urteil vom 14. September 2016 - L 31 AS 300/15; LSG N -W, Beschluss vom 7. Juli 2021 - L 12 AS 1164/20).

5. Weiter zu berücksichtigen ist ein Mehrbedarf für die dezentrale Warmwassererzeugung nach § 30 Abs 7 SGB 12 .

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174443

 

 

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 LSG NSB, Urt. v. 01.06.2023 - L 8 AY 19/22 - Revision zugelassen

Landkreis muss OP eines minderjährigen Asylbewerbers bezahlen ( Ähnliche Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 20.06.2023 - L 8 AY 16/23 B ER - veröffentlicht zuletzt im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 39/2023)

Leitsätze

1. Im Streit über den Anspruch der leistungsberechtigten Person gegen den Leistungsträger auf stationäre Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG ist der Träger des Krankenhauses nicht nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen.

2. Die Kenntnis von den Voraussetzungen für die Leistung i.S. des § 18 SGB XII ist bei Gesundheitsleistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG im Regelfall zu bejahen, wenn der Leistungsträger Kenntnis von einer (Grund-)Erkrankung bzw. einem gesundheitswidrigen Zustand hat (z.B. Diabetes mellitus, HIV, psychische Beeinträchtigungen, körperliche Beschwerden); in diesen Fällen ist das Einsetzen der Leistung nicht von der Kenntnis der konkreten Behandlungsbedürftigkeit oder der im Einzelfall beabsichtigten Behandlung abhängig.

3. Die Abgrenzung der Gesundheitsleistungen nach § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG und § 6 AsylbLG erfolgt danach, ob die Behandlung Schmerzzustände bzw. eine akute, also eine plötzlich auftretende, schnell und heftig verlaufende Erkrankung betrifft (Anwendungsbereich des § 4 Abs 1 S 1 AsylbLG) oder eine chronische, also eine langsam sich entwickelnde oder langsam verlaufende Erkrankung (Anwendungsbereich des § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG).

4. Zur Beurteilung, ob Leistungen zur Sicherung der Gesundheit iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG unerlässlich sind, sind als Kriterien einzubeziehen zB die Qualität des betroffenen Rechtes (Grundrechtsrelevanz), Ausmaß und Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung sowie die voraussichtliche und bisherige Aufenthaltsdauer des Ausländers in Deutschland. Hierbei kommt der Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 eine besondere Bedeutung zu (Festhalten an LSG Celle-Bremen vom 01.02.2018 - L 8 AY 16/17 B ER = juris RdNr 27 sowie vom 06.10.2022 - L 8 AY 46/20 - und - L 8 AY 47/18). In diesem Zusammenhang sind auch europarechtliche Vorgaben für die medizinische Behandlung von Personen mit besonderen Bedürfnissen zu beachten. Die Kosten einer medizinischen Behandlung sind für die Beurteilung, ob sie unerlässlich iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG ist, nicht entscheidend.

5. Die Leistungen nach §§ 4, 6 AsylbLG müssen allgemeinen Grundsätzen des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts entsprechen, insbesondere hat die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig zu erfolgen (vgl § 28 Abs 1 S 1 SGB V). Sie muss wirtschaftlich sein und darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (vgl § 12 Abs 1 SGBV). Eine vollstationäre Krankenhausbehandlung muss insbesondere den speziell geregelten Aspekt des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 39 Abs 1 S 2 SGB V beachten.

6. Die Ablehnung einer nach den hiesigen Lebensverhältnissen medizinisch an sich erforderlichen Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw. minderjährige Grundleistungsberechtigte als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässliche Leistung iSd § 6 Abs 1 S 1 Alt 2 AsylbLG bedarf einer besonderen Rechtfertigung.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174408

 

 

6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 LSG Berlin- Br., Urt. v. 01.06.2023 - L 32 AS 2002/19

LSG Berlin-Brandenburg: Aufenthaltsrecht zur Vermeidung außergewöhnlicher Härte?

Redaktion eGovPraxis Jobcenter

Gegenstand der Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg ist der Leistungsausschluss für Ausländer. Das Gericht beschäftigte sich in der Entscheidung insbesondere mit der Frage, wann einem Ausländer ein Aufenthaltsrecht zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte für schutzbedürftige Familienangehörige gewährt werden kann.

Fazit

Ein Aufenthaltsrecht aus Gründen des Familiennachzugs zu Deutschen ist zu gewähren, wenn der Deutsche (dem nachgezogen wird) seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Berechtigt dazu sind - in entsprechender Anwendung des § 36 AufenthG - auch sonstige Familienangehörige eines Deutschen zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte.

Entscheidend ist:

die Erforderlichkeit familiärer Lebenshilfe

sowie

die Gewährung des Schutzes des Art. 6 GG.

Hierbei ist auch die Zumutbarkeit der Konsequenzen einer ablehnenden Entscheidung für den minderjährigen Deutschen zu berücksichtigen.

Quelle: Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 01.06.2023 - L 32 AS 2002/19

https://www.wolterskluwer.com/de-de/expert-insights/lsg-aufenthaltsrecht-aussergewoehnliche-haerte


Hinweis: veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 29/2023

 

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock


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