Newsticker

Jahresarchiv

Jahresarchive

Tacheles Rechtsprechungsticker KW 43/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe ( SGB XII )

1.1 BSG, Urteil vom 19. Mai 2022 (B 8 SO 13/20 R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel


Leistungen zur Sozialen Teilhabe im Sinne der §§ 113 ff. SGB IX, deren Selbstverständnis in der Ermöglichung bzw. Erleichterung einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft besteht, umfassen ebenfalls Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zugrunde liegt.

Ein durch einen mehrfachbehinderten, erwerbsgeminderten und pflegebedürftigen Antragsteller geltend gemachtes Bedürfnis nach Urlaub und Erholung bei einer einwöchigen Kreuzfahrt fällt unter den Begriff der Freizeitgestaltung und stellt deshalb ein soziales Teilhabebedürfnis im Sinne des § 113 Abs. 2 SGB IX dar. Dies gilt allerdings lediglich in Bezug auf die einzelfall- und behinderungsbedingt notwendigenvMehrkosten, z. B. für eine Begleitperson, nicht aber hinsichtlich des allgemeinen Bedürfnisses nach selbstbestimmter Freizeitgestaltung.

Werden schwerbehinderte Menschen mit besonderen Kosten im Zuge der Freizeitgestaltung konfrontiert, dann sind hier die erforderlichen behinderungsbedingten Mehraufwendungen vom Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen (§§ 90 ff. SGB IX) mit umfasst. Diese Aufwendungen bestimmen sich nach der Differenz der Kosten der selbst gewählten Freizeitgestaltung der einzelnen behinderten Person zu den einem nichtbehinderten Menschen bei einer entsprechenden Freizeitaktivität entstehenden Kosten.

Eine einwöchige Kreuzfahrt eines mehrfach behinderten Menschen auf der Nordsee kann als geeignet und erforderlich, um sein Bedürfnis nach Urlaub/Erholung bzw. Freizeitgestaltung zu decken, aufgefasst werden.

Der Wunsch dieser schwerbehinderten Person, sich auf eine einwöchige Urlaubsreise zu begeben, geht nicht in einem bedeutenden Maße über die Bedürfnisse eines nicht behinderten, in keiner Weise von Leistungen der öffentlichen Fürsorge abhängigen Erwachsenen hinaus (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Satz 1 und 3 SGB XII).

 

 

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

2.1 LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 31.08.2022 - L 5 AS 463/22 B ER

Leitsatz


Der Pflicht, ungeschwärzte Kontoauszüge zur Prüfung des Leistungsanspruchs vorzulegen, können sich selbständig tätige Leistungsbezieher nicht durch eine Berufung auf den gegenüber ihren Kunden zu leistenden Datenschutz entziehen.

Quelle: https://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/bsst/document/JURE220034113

 

2.2 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.08.2022 - L 5 AS 339/21

Leitsatz


1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach die Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete im Landkreis Harz nach der Mietwerterhebung 2012 in der Fassung der Korrekturberichte vom Februar 2020 sowie Juli 2022 den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept entspricht (vgl Urt v 15.04.2021, L 5 AS 391/19 ZVW).

2. Die Unterteilung des Landkreises Harz in drei Vergleichsräumen ist nicht zu beanstanden. Insbesondere führt die Vergleichsraumbildung anhand der drei Mittelbereiche im Landkreis Harz nicht zur Gefahr der Gettobildung. Es ist nicht erforderlich, als Kriterium zur Vergleichsraumbildung auf ein ähnliches Mietpreisniveau abzustellen.

Orientierungssatz

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS) - Konzept zu den KdUH im Landkreis Harz (hier: Vergleichsraum Wernigerode): Folgeentscheidung zum Urteil des Senats vom 15.04.2021, L 5 AS 391/19 ZVW, das vollständig dokumentiert ist.

Quelle: https://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/bsst/document/JURE220034112

 

2. 3 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.08.2022 - L 5 AS 547/21

Leitsatz


1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach die Ermittlung der angemessenen Bruttokaltmiete nach der Mietwerterhebung 2012 in der Fassung der Korrekturberichte vom Februar 2020 sowie Juli 2022 den Anforderungen an ein schlüssiges Konzept entspricht (vgl Urt v 15.04.2021, L 5 AS 391/19 ZVW).

2. Die von dem Konzeptersteller durchgeführte Gewichtung der erhobenen Daten nach Vermietertypen aufgrund von nunmehr angenommenen signifikanten Preisunterschieden bei sog privaten und institutionellen Vermietern in den einzelnen Vergleichräumen ist nicht zu beanstanden.

3. Nach erfolgter Gewichtung ergibt sich für den Vergleichsraum Quedlinburg (Einpersonenhaushalt) keine höhere angemessene Bruttokaltmiete als vom Jobcenter bisher berücksichtigt.

Orientierungssatz

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS) - Konzept zu den KdUH im Landkreis Harz (hier: Vergleichsraum Quedlinburg): Folgeentscheidung zum Urteil des Senats vom 15.04.2021, L 5 AS 391/19 ZVW, das vollständig dokumentiert ist.

Quelle: https://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/bsst/document/JURE220034114

 

 

2. 4 LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 23.06.2022 - L 4 AS 413/19

Leitsatz


Eine während Sanierungsarbeiten genutzte Wohnung fällt unter den weiteren Begriff der Unterkunft iSv § 22 Abs 1 SGB II, wenn sie Schutz vor Witterung und Privatsphäre bietet. Unterkunftskosten sind grundsätzlich auch dann für eine (vorrangig genutzte) Unterkunft anzuerkennen, wenn der Leistungsberechtigte zugleich auch eine weitere Wohnung zum Abstellen von persönlichen Dingen und zum Aufenthalt nutzen kann.

Quelle: https://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/bsst/document/JURE220033867

 

3.  Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

3.1 SG Osnabrück, Beschluss vom 25.08.2022 - S 16 AS 212/22 ER

Mietvertrag zwischen minderjähriger Leistungsberechtigten und ihrer Mutter im SGB II

Schließt eine minderjährige Leistungsberechtigte mit ihrer Mutter (und gesetzlichen Vertreterin) einen Mietvertrag über ein Zimmer in der elterlichen Wohnung, so ist dieser zivilrechtlich nicht wirksam und deshalb für die Höhe der Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II nicht relevant.

Der Vertrag ist nach § 107 BGB schwebend unwirksam. Die Eltern konnten den Vertrag nicht nach § 108 BGB genehmigen. Bei der Mutter würde ein Verstoß gegen § 181 BGB vorliegen, der Vater hätte wegen § 1629 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1795 Abs. 1 Nr. 1 BGB für das Geschäft mit seiner Ehefrau keine Vertretungsmacht.

Deshalb kann offen bleiben, ob ein Scheingeschäft nach § 117 BGB vorliegt, eine Vertretung des Kinds und der Abschluss des Mietvertrags nur gemeinschaftlich möglich waren und, ob § 1822 Abs. 1 Nr. 5 BGB (Genehmigungsbedürftigkeit bestimmter Mietverträge) i.V.m. § 1643 Abs. 1 BGB anwendbar ist.

Quelle: https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=JURE220035346&st=null&showdoccase=1

Hinweis: Keine höheren Unterkunftskosten bei unwirksamem Mietvertrag zwischen Mutter und einer 15-jährigen Schwangeren

weiter: https://www.sozialgericht-osnabrueck.ni ... 15447.html

 

3.2 SG Magdeburg, Urt. v. 21.06.2022 - S 28 AS 628/19 WA

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - angemessene Unterkunftskosten - Zweipersonenhaushalt in Aschersleben im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt - schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers - Vergleichsraumbildung - Repräsentativität der Datenerhebung - Abbildung der Vermieterstruktur - nachvollziehende Verfahrenskontrolle - Zumutbarkeit eines Umzugs - Kostensenkungsaufforderung - Wirtschaftlichkeitsprüfung - Umzug ohne Zusicherung

Leitsatz


1. Das vom Beklagten angewandte Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitswerten des § 22 Abs 1 S 1 SGB II genügt in der Fassung des Berichts Juli 2019 den Anforderungen an Gesetz und höchstrichterliche Rechtsprechung. (Rn.94)

2. Aus dem Institut der nachvollziehenden Verfahrenskontrolle folgt keine unzulässige Beweislastumkehr zulasten leistungsberechtigter Personen. (Rn.89)

3. Eine Datenerhebung für die Ermittlung einer Referenzmiete zur Bestimmung angemessener Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 S 1 SGB II kann auch dann hinreichend repräsentativ sein, wenn sie nicht die auf dem Wohnungsmarkt vorhandene Vermieterstruktur von "privaten" und "institutionellen" Vermietern proportional abbildet. (Rn.141)

4. Ziehen leistungsberechtigte Personen innerhalb des Vergleichsraums um, ohne sich eine Zusicherung vom Grundsicherungsträger einzuholen, tragen sie auch dann das Risiko, dass die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung auf die Angemessenheitswerte begrenzt werden, wenn zur Zeit des Umzugs kein schlüssiges Konzept vorlag, im Streitzeitraum aber schon. (Rn.197)

5. Wirtschaftlichkeitserwägungen führen ohne eine Selbstbindung der Verwaltung jedenfalls dann nicht zur Unzumutbarkeit des Umzugs, wenn nicht allein die Heizkosten, sondern auch die Unterkunftskosten die Angemessenheitswerte übersteigen. (Rn.203)

6. Aus § 22 Abs 1 S, 4 SGB II folgen keine subjektiv-öffentlichen Rechte leistungsberechtigter Personen. (Rn.214)

Orientierungssatz

Die für den Salzlandkreis vorgenommene Vergleichsraumbildung ist nicht zu beanstanden. (Rn.96)

Quelle: https://www.landesrecht.sachsen-anhalt.de/bsst/document/JURE220033395

 

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

4.1 Sozialgericht Halle, Beschluss vom 7. September 2022, S 2 AL 96/22 ER

Leitsatz RA Claudia Zimmermann


1. Im Fall einer durch das Hauptzollamt im Namen der Bundesagentur für Arbeit betriebenen Zwangsvollstreckung ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet, weil sich der Antragsteller nicht gegen die Art und Weise der Durchsetzung der Zwangsvollstreckung wendet, sondern Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt selbst bzw. eine Vollstreckung hieraus erhebt.

2. Macht der Antragsteller geltend, der Bescheid, aus dem die Vollstreckung betrieben werde, sei ihm nicht bekanntgegeben worden, liegen die Voraussetzungen für die Vollstreckung des Bescheides nicht vor.

3. Wenn ganz überwiegende Erfolgsaussichten einer gegen die Vollstreckung gerichteten Klage bestehen, sind keine überhöhten Anforderungen an den Anordnungsgrund zu stellen.

4. Hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer Ankündigung des Hauptzollamts auf Durchführung der Zwangsvollstreckung aus einem nicht bekannt gegebenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit.

Quelle: http://www.razimmermann.de/sozialrecht/

 

5.  Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe ( SGB XII )

5.1 Sozialgericht Dresden, Urteil vom 22. März 2022 (S 21 SO 150/18):

betreutes Wohnen: Kosten für eine Betreuungspauschale sind vom Grundsicherungsträger als Kosten der Unterkunft zu übernehmen ( Orientierungssatz RA Dr. Jens- Torsten Lehmann )

Leitsatz Dr. Manfred Hammel


Die im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens für einen körperlich wesentlich behinderten Menschen (GdB: 100; Zuerkennung der Merkzeichen "B", "G", "aG" und "H" sowie des Pflegegrads 3) von der Vermieterfirma für die Erbringung von wohnortnahen Dienstleistungen ebenfalls in Rechnung gestellte "Dienstleistungspauschale" in einer Höhe von monatlich EUR 300,- stellt einen von der Grundsicherung nach den §§ 41 ff. SGB XII (hier: § 42 Nr. 4 SGB XII in Verbindung mit § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) anzuerkennenden Bedarf dar.

Die Kosten einer solchen Betreuungspauschale erhöhen die zu berücksichtigenden Kosten der Unterkunft, denn die von einem
Sozialhilfeträger hier anzuerkennenden Aufwendungen sind bei solchen Mietverhältnissen nicht einzig auf die Übernahme der (Kalt-) Miete und der Betriebskosten beschränkt. Von maßgebender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang ebenfalls Aufwendungen für Dienst- und Sachleistungen, die zwar ihrer Art nach nicht dem Grundbedürfnis "Wohnen" dienen, aber mit den jeweiligen mietvertraglichen Vereinbarungen derart verknüpft sind, so dass diese spezielle, im Einzelfall unabdingbar erforderliche Unterkunft ohne die Finanzierung dieser Aufwendungen weder erlangt noch erhalten werden kann. Dieser Kostenpunkt steht nicht zur Disposition des einzelnen Bewohners und stellt deshalb einen unausweichlichen Kostenfaktor dieser Wohnung dar.

https://ra-jtlehmann.de/hartz-4-2/

 

 

6.  Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 23.09.2022 – Az.: L 4 AY 27/22 B

Normen: § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG, §§ 3 Abs. 1 und 2, 3 a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG – Schlagworte: AsylbLG, Regelbedarfsstufe 2b, Regelbedarfsstufe 1, Sammelunterkunft, Gemeinschaftsunterkunft, Hessisches Landessozialgericht, Prozesskostenhilfe

Beim Bundesverfassungsgericht steht unter dem Az.: 1 BvL 3/21 die auch für das vorliegende Verfahren maßgebliche Frage der Beurteilung zur Höhe von Leistungen für Asylbewerber in Gemeinschaftsunterkünften an.

weiter bei RA Sven Adam: https://anwaltskanzlei-adam.de/2022/10/15/hessisches-landessozialgericht-beschluss-vom-23-09-2022-az-l-4-ay-27-22-b/

 

 

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7. 1 Stellungnahme des @Anwaltverein zum AsylbLG-BVerfG-Verfahren

"Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass es nach wie vor keine verfassungsrechtlich haltbare Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung des AsylbLG [...] gibt."

Quelle: RA Volker Gerloff: https://twitter.com/GerloffVolker?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor

 

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

Zurück