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Tacheles Rechtsprechungsticker KW 47/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem ( SGB II ) und zur Sozialhilfe ( SGB XII )

1.1 BSG, Urt. v. 13.07.2023 - B 8 SO 11/22 R

Sozialhilfe - Nothilfe - Erstattungsanspruch eines Krankenhausträgers - Anspruch des Hilfebedürftigen auf Krankenhilfe im Falle einer Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall - Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht - Überbrückungsleistungen - Behandlung akuter Erkrankungen - Bereitschaft zur Ausreise

BSG: Mehr Schutz für Ausländer ohne Krankenversicherung

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.

1. Ein Nothelferanspruch nach § 25 SGB XII ist auch dann gegeben, wenn der Hilfebedürftige bei Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall allenfalls Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Absatz 3 Satz 5 Nummer 3 SGB XII gehabt hätte.

2. Die Überbrückungsleistungen müssen auch dann erbracht werden, wenn die Person keinen „Ausreisewillen“ oder keine „Ausreisebereitschaft“ äußert.

 

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174622

 

 

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

2.1 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.08.2023 - L 37 SF 257/21 EK AS

Leitsätze


§§ 198 ff. GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV)

Ein Verfahren zur Herbeiführung einer Kostengrundentscheidung nach § 193 SGG stellt ein eigenständiges Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG dar.

Für die Beurteilung der nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG wesentlichen Bedeutung des Verfahrens ist allein eine objektivierte Betrachtung maßgeblich (Anschluss an BSG, Urteils vom 07.09.2017 – B 10 ÜG 1/16 R – juris, Rn. 35).

Einem Verfahren zur Herbeiführung einer Kostengrundentscheidung kann regelmäßig keine größere Bedeutung beigemessen werden als sie dem vorangegangenen Klageverfahren zugekommen wäre. Entschließt sich ein – einkommens- und vermögensloser – Kläger, unter Einschaltung eines Rechtsanwalts Rechtsstreitigkeiten um Bagatellbeträge zu führen, kann er sich bzgl. des sich anschließenden Verfahrens zur Herbeiführung der Kostengrundentscheidung nicht darauf berufen, dass dieses Verfahren für ihn mit Blick auf die ihm drohenden Anwaltskosten von großer Bedeutung war. Da er das Risiko, mit Kosten belastet zu werden, die um ein Vielfaches über dem mit der Klage letztlich verfolgten Betrag liegen, gleichsam provoziert hat, sind seine Interessen insoweit nicht schützenswert.

In Verfahren, in denen Kostenfragen betreffende oder vorbereitende Nebenentscheidungen zu treffen sind, ist klar zwischen den Interessen der Beteiligten und denen ihrer Rechtsanwälte zu unterscheiden (Anschluss an BSG, Urteil vom 12.12.2019 – B 10 ÜG 3/19 R – juris, Rn. 41, 43).

Hat ein Verfahren zur Herbeiführung der Kostengrundentscheidung für einen Kläger aus der Sicht eines verständigen Dritten keine schützenswerte Bedeutung, ist im Falle der unangemessenen Dauer dieses Verfahrens regelmäßig die Wiedergutmachung auf sonstige Weise nach § 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG ausreichend.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174590

 

2.2 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.08.2023 - L 37 SF 196/20 EK AS

Leitsätze


1. Im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren steht dem Landessozialgericht eine Vorbereitungs-und Bedenkzeit von in der Regel sechs Monaten zu (Fortführung der Rechtsprechung des Senats vom 25.02.2016 - L 37 SF 128/14 EK AL - juris Rn. 59).

2. Eine instanzübergreifende Konsumtion von Vorbereitungs- und Bedenkzeiten (hier in Form der Aufzehrung der dem Landessozialgericht zugewiesenen Vorbereitungs- und Bedenkzeiten durch das Sozialgericht) findet nicht statt.

Für die erstmalige vorprozessuale Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens gegenüber dem haftungspflichtigen Land ist die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe in der Regel nicht erforderlich und gehören die durch die gleichwohl erfolgte Beauftragung eines Rechtsanwalts entstandenen Aufwendungen dementsprechend nicht zu den notwendigen Rechtsverfolgungskosten (Fortführung der Rechtsprechung des Senats vom 09.06.2021 - L 37 SF 271/19 EK AS - juris Rn. 61 ff.).

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174589

 

2.3 LSG NRW, Beschluss v. 19.10.2023 - L 6 AS 873/23 B ER

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.

Der rechtmäßige Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dürfte als Aufenthaltsrecht i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a SGB II zu qualifizieren sein (ähnlich LSG NRW, Urteil vom 06.04.2022, L 12 AS 1323/19; a. A. LSG NRW, Beschluss vom 29.09.2023, L 2 AS 897/23 B ER).

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174603

 

 

2.4 LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.07.2023 - L 10 AS 311/19 - anhängig BSG, kein Datum verfügbar, B 7 AS 13/23 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer ohne materielles Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche - Sozialhilfe - Überbrückungsleistungen - Umfang - andere Leistungen für einen längeren Zeitraum - Vorliegen einer besonderen Härte

Orientierungssatz

1. Der Begriff der "besonderen Härte" in § 23 Abs 3 S 6 SGB 12 macht deutlich, dass nur ganz außergewöhnliche individuelle Situationen, etwa schwere, dauerhafte, eine Reiseunfähigkeit begründende Erkrankungen eine Leistungsgewährung rechtfertigen können. (Rn.68)

2. Soweit vertreten wird, die Härtefallregelung des § 23 Abs 3 S 6 Halbs 2 SGB XII müsse aus verfassungsrechtlichen Gründen dahingehend ausgelegt werden, dass allein der Aufenthalt im Bundesgebiet einen Härtefall begründet bzw dass die Voraussetzungen der Härtefallregelungen bereits dann vorliegen, wenn der betroffene Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts für sich in Anspruch nehmen kann und die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht ergriffen hat, sein Aufenthalt also faktisch geduldet wird, folgt der Senat dem nicht. (Rn.70)

Quelle: https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/JURE230057661

 

Hinweis: a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 – L 15 SO 181/18 - Revision anhängig BSG- B 8 SO 7/19 R – wonach die Voraussetzungen der Härtefallregelungen bereits dann vorliegen, wenn der betroffene Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts für sich in Anspruch nehmen kann und die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht ergriffen hat, sein Aufenthalt also faktisch geduldet wird.

 

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem ( SGB II )

3.1 SG Freiburg, Urt. v. 26.05.2023 - S 7 AS 1561/22

Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze nach § 20 SGB II in den Jahren 2020, 2021 und 2022, hier verfassungsgemäß ( Redakteur Tacheles e. V. )

Leitsätze

Die Höhe der Regelbedarfe der Stufe 2, 5 und 6 genügt in der Zusammenschau mit weiteren finanziellen Entlastungsmaßnahmen des Gesetzgebers in den Jahren 2020, 2021 und 2022 – noch – den an die Bestimmung ihrer Höhe zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174593

 

Hinweis: vgl. dazu SG Freiburg, Urt. v. 26.05.2023 - S 7 AS 1845/22; a. A. Vorlagebeschluss SG Karlsruhe vom 06.06.2023 im Verfahren S 12 AS 2208/22 - zur Verfassungswidrigkeit der Existenzsicherung in 2021 + 2022 ( Tacheles Rechtsprechungsticker KW 46/2023)

 

 

3.2 SG Freiburg, Urt. v. 13.05.2023 - S 7 AS 2121/21

Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Entscheidung nach vorläufiger Bewilligung - Erstattung überzahlter Leistungen - Übergangsregelung des § 67 Abs 4 SGB 2 - abschließende Entscheidung nur auf Antrag des Leistungsberechtigten - Anwendbarkeit der Vorschrift trotz Erlass des Bewilligungsbescheides vor ihrem Inkrafttreten und auch auf Altfälle - Rücknahme nach § 45 SGB 10 - anfängliche Rechtswidrigkeit - zutreffende Prognose im Zeitpunkt des Bescheiderlasses - Aufhebung nach § 48 SGB 10 - Erzielung von Einkommen nach Erlass des Bescheides - Änderung der gleichen tatsächlichen Verhältnisse, die die Vorläufigkeit begründet haben - Aufhebungsentscheidung nach Ablauf des Bewilligungszeitraums

Leitsätze

1. Für Bewilligungszeiträume über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld), die in der Zeit ab dem 1.3.2020 begannen, wird nach § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II im Falle der vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II abweichend von § 41a Abs. 3 SGB II nur auf Antrag der Leistungsbezieher abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch entschieden. Für die Leistungsbezieher besteht also Wahlfreiheit, es entweder bei der vorläufigen Leistungsbewilligung bewenden zu lassen, oder eine endgültige Bewilligung zu beantragen.

2. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn der Bewilligungsbescheid vor dem Inkrafttreten des Gesetzes für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) vom 27.3.2020 erlassen wurde, soweit er sich auf Leistungszeiträume ab dem 1.3.2020 bezieht.

3. Diese Regelung ist sowohl auf einen bereits vor dem 1.3.2020 begonnenen Leistungsbezug nach dem SGB II als auch auf „Neufälle“ anwendbar.

4. Die anfängliche Rechtswidrigkeit des Bescheids im Sinne des § 45 SGB X ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Vorschrift. Bei Prognoseentscheidungen kommt es für die Bestimmung anfänglicher Rechtswidrigkeit im Sinne des § 45 SGB X aber nicht auf die sich später herausstellende tatsächliche Sachlage an, sondern lediglich darauf, ob die Prognose selbst zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zutreffend war.

5. Ob eine solche Prognose - wie die nach § 41a SGB II zu treffende Prognose des erwartbaren Einkommens - korrekt oder zumindest vertretbar ist, kann unter Heranziehung der Fallgruppen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 - Nr. 3 SGB X beurteilt werden.

6. § 48 SGB X kann - unter der Geltung des § 67 Abs. 4 SGB II - zumindest dann nicht für eine nachträgliche Korrektur einer vorläufigen Leistungsbewilligung nach § 41a SGB II herangezogen werden, wenn eine Änderung in den gleichen tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die bereits die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung ausgelöst haben (hier: prognostiziertes künftiges Erwerbseinkommen aus selbständiger Tätigkeit), wenn die Aufhebungsentscheidung erst nach Ende des Bewilligungsabschnitts erfolgt. Andernfalls würde das Wahlrecht des Leistungsbeziehers aus § 67 Abs. 1, Abs. 4 SGB II unterlaufen.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174596

 

 

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht ( SGB III )

4.1 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13.09.2023 - L 8 AL 3484/21

Leitsätze

Zur Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers bei der Gewährung von Kfz-Hilfe als Eingliederungshilfe zur Durchführung eines praxisintegrierten dualen Studiums.

Quelle: https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/174609

 

 

5. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 LSG: Höhere Unterkunftskosten bei fehlender Datenermittlung zu barrierefreiem Wohnraum? LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.6.2023 - L 2 SO 2864/21

Redaktion eGovPraxis Sozialhilfe

Menschen mit (Geh-)Behinderungen benötigen barrierefreien Wohnraum, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das LSG Baden-Württemberg hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob beziehungsweise in welchen Fällen ein Sozialleistungsträger höhere Unterkunftskosten dafür übernehmen muss.

Fazit

Wenn vom Sozialhilfeträger keinerlei Daten zur Verfügbarkeit und dem Preis von barrierefreiem Wohnraum erhoben werden, kann dies im Einzelfall dazu führen, dass für den Hilfebedürftigen, der auf einen solchen Wohnraum angewiesen ist, weiterhin die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu übernehmen sind.

Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf so lange anzuerkennen, wie es der oder dem alleinstehenden Leistungsberechtigten oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der Produkttheorie in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen.

Im Rahmen der konkreten Angemessenheit werden die personenbezogenen Umstände (z.B. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit) bei den jeweiligen mietpreisbildenden Faktoren (z.B. Wohnflächenbedarf, Vergleichsraum, Wohnungsstandard, Referenzgruppe) berücksichtigt.

Quelle: https://www.wolterskluwer.com/de-de/expert-insights/lsg-hoehere-unterkunftskosten-bei-barrierefreiem-wohnraum

 

Hinweis: veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 36/2023

 

 

5.2 Newsletter von RA Volker Gerloff – 14 – 2023

1. Bayerisches LSG weicht Dogma „Einmal Rechtsmissbrauch – immer Rechtsmissbrauch“

auf

Schöne Entscheidung des BayLSG zum Rechtsmissbrauch, der den Zugang zu Analogleistungen nach § 2 AsylbLG ausschließen soll: Beschluss vom 25.10.2023 – L 8 AY 29/23 B ER.

Weiter: https://www.ra-gerloff.de/newsletter/Newsletter-14-2023.pdf

 

 

5.3 Newsletter von RA Volker Gerloff - 15 - 2023 -

1. APPELL: Die Menschenwürde gilt für alle – auch für Geflüchtete! Gegen sozialrechtliche Verschärfungen und für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes

weiter: https://www.ra-gerloff.de/newsletter/Newsletter-15-2023.pdf

 

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock

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